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Newsroom Events Medizin am Abend 2024 103. Bei Depressionen…

„Bei Depressionen vergeht die Zeit kaum mehr“

Professor Thomas Fuchs ist Karl-Jaspers- Professor für Psychiatrie und Philosophie am Heidelberger Universitätsklinikum. Er beschäftigt sich damit, wie sich der Zeitgeist auf Burn-out und Depressionen auswirkt – und er ist Referent bei der nächsten Veranstaltung von „Medizin am Abend“, der gemeinsamen Reihe von RNZ und Universitätsklinikum Heidelberg. 

Zeit heilt alle Wunden. Aber ist es vielleicht andersherum, und es ist die Zeit, die krank macht, Herr Professor Fuchs? 

Die Redewendung beschreibt die Fähigkeit, sich mit in der Vergangenheit Erlittenem zurechtzufinden. Dasist zu unterscheiden von der Zeitlichkeit, die unser gegenwärtiges Leben prägt. Verdichtete und beschleunigte Prozesse in unserem Alltag können belasten, stressen und krank machen. Das reicht von Schlafstörungen bis hin zu Depressionen.

Sie beschäftigen sich mit Zeitstrukturen und psychischen Erkrankungen. Welche Rolle spielt, ob man eher um die Vergangenheit oder um die Zukunft kreist?

Der zukunftsgewandte, vorwärtsdrängende Typus will gestalten, ihm ist die Gegenwart nicht genug. Diese Haltung findet sich häufig bei Leistungsträgern, aber auch bei Menschen mit Manien. Ein anderer Typus geht eher mit dem Lauf der Dinge mit und lebt in der Gegenwart, das ist wohl eine gesunde Haltung. Ein dritter Typus hängt am Vertrauten, und Veränderungen bereiten ihm Probleme. Menschen mit melancholischer Haltung leiden unter Vergänglichkeit und Verlusten, und das gilt auch für Depressive.

Ist es die Endlichkeit, über der Depressive verzweifeln?

In gewissem Sinn ja, denn Verluste erleben sie oft so, dass nichts im Leben bleibt. Eine Trennung oder schon ein Umzug können eine Grenzsituation darstellen, die sie überfordert, und das kann in eine Depression münden.

„Schuld und Last der Vergangenheit drücken Depressive buchstäblich nieder“, schreiben Sie in einem Aufsatz zum Thema.

 Da sind wir schon in der Depression, bei der ja oft Versäumnisse und Fehler im Vordergrund stehen. Der Weg dorthin zeichnet sich meist ab durch ein Gefühl des Zurückfallens, des Nicht-mehr-Hinterherkommens mit Anforderungen und Fristen. Das führt oft zum Burn-out, einer Form der Depression, bei der aber neben der Erschöpfung auch die Enttäuschung eine Rolle spielt. Etwa dann, wenn jemand viel investiert, aber im Gegenzug wenig Anerkennung erhält.

Wie gestaltet sich das Zeitempfinden von depressiven Menschen?

Depressionen sind gekennzeichnet von allgemeiner Verlangsamung und Stockung. Die Zeit vergeht kaum mehr, sie dehnt sich; gequält wartet man darauf, dass es endlich Abend wird und man den Tag hinter sich gebracht hat. Die Zeit geht vorüber, ohne dass sie gestaltet wird. Studien, auch aus der Heidelberger Psychiatrie hier in Bergheim, zeigen, dass Patienten mit Depressionen vorgegebene Zeitfenster als länger empfinden, als sie in Wirklichkeit sind.

Das heißt, das gestörte Zeitempfinden ist sowohl Ursache als auch Folge von Depressionen?

Ja. Das Zurückbleiben hinter der Zeit, der wachsende Berg unbewältigter Aufgaben ist zunächst eine häufige Ursache der Depression. Tritt sie ein, dann sind viele körperliche Prozesse gestört, die zyklisch verlaufen. Davon aber leben wir, denn die Ernährung, die Atmung, der Herzschlag, die Tagesperiodik laufen rhythmisch ab. In der Depression funktionieren diese Abläufe nicht richtig, etwa wenn der Schlafwach- Rhythmus durcheinanderkommt und die Menschen schon gerädert sind, ehe der Tag beginnt. Dann fehlt ihnen oft jeglicher Antrieb, sodass die Zeit sich endlos dehnt.

Die Zahl der Krankschreibungen aufgrund von Depressionen, Belastungsreaktionen und Ängsten hat sich in den vergangenen 25 Jahren in Deutschland vervierfacht. Das hängt mit den Beschleunigungsprozessen in westlichen Industriegesellschaften zusammen, argumentieren Sie. 

Jedenfalls spielen sie eine ganz wesentliche Rolle. Anders als unser Organismus, der nach zyklischen Prinzipien funktioniert, ist unser ganzes Wirtschaftssystem linear ausgerichtet, auf fortwährendes Wachstum und Beschleunigung – sonst produziert am Ende etwa China die E-Autos schneller. Daraus ergibt sich ein Konflikt zwischen zyklischer und linearer Zeit, der zum Beispiel in dem Burn-out führen kann: Eine Zeit lang versuchen Menschen noch, sich durch Mehrleistung an die Arbeitsverdichtung anzupassen, doch dann kann eine vollständige Depression die Folge sein. Aber natürlich tragen auch Krisen und Ängste, die die Gegenwart mit sich bringt, zur Zunahme von psychischen Krankheiten bei.

Allerdings zeigen Karten der Weltgesundheitsorganisation zur Verbreitung von Depressionen vergleichsweise wenige Fälle in Japan, Australien oder auch etwa in England. Auch das sind westliche Industrienationen. Wie passt das zu Ihrer These?

Da bin ich vorsichtig, denn das Vorkommen von Krankheiten wird auch kulturell beeinflusst von ihrer jeweiligen Wahrnehmung, von Diagnosegewohnheiten, vom Arbeitsethos, von der Inanspruchnahme von Krankschreibungen. Das müsste man sich von Land zu Land anschauen. Die Untersuchung an einem Ort im Zeitverlauf erscheint mir aufschlussreicher als der Quervergleich.

Dann noch einmal zu Deutschland. Fördert die enorme Last, die Individuen in einer säkularen Gesellschaft mit brüchigen Familienstrukturen und zahlreichen Wahlmöglichkeiten tragen, nicht auch das Auftreten von Depressionen?

Das ist kein Widerspruch. Gerade in einer beschleunigten Gesellschaft sind Menschen darauf angewiesen, sich anzupassen, um mitzuhalten. Das schließt auch die Verantwortung mit ein, ständig das eigene Leben zu gestalten. Anders als früher, als man eher an seinem Heimatort blieb, vielleicht den elterlichen Betrieb übernahm oder als Mutter womöglich nicht auch noch berufstätig war, stehen uns heute viele Wege offen, und wir sind vielen Erwartungen ausgesetzt. Die ständige Wahl des eigenen Lebens erschöpfe die Individuen, schrieb schon der Soziologe Alain Ehrenberg zu den Depressionen der Gegenwart. 

Als Weg aus der Krise empfehlen Sie, den Tag durch Aktivitäts- und Ruheperioden zu strukturieren. Wie meinen Sie das? 

Die Restrukturierung der Zeit ist ein zentraler Aspekt in der ambulanten und stationären Behandlung von Depressionen. Um den Schlaf-wach-Rhythmus herzustellen, können auch Medikamente helfen. Man muss sich vor Augen führen: Eine Depression ist eine einzige Stressreaktion, daher ist die Erholung in der Nacht wichtig. Tagsüber geht es darum, die sich endlos dehnende, leere Zeit wieder zu gestalten, durch kleine Handlungseinheiten, durch rhythmische Körpertätigkeiten wie Gehen, Laufen oder Schwimmen, gefolgt von Ruhephasen – damit ist schon viel gewonnen, denn die zyklische Zeitstruktur ist für depressive Patienten schon ein Wert an sich. 

Beitrag: Julia Lauer, RNZ

Referent

Portrait von Prof. Dr. med. Dr. phil. Thomas Fuchs

Professor Thomas Fuchs
Psychiater und Philosoph
Sektionsleiter Sektion Phänomenologische Psychopathologie und Psychotherapie
Zentrum für Psychosoziale Medizin
Universitätsklinikum Heidelberg