Heidelberg,
19
Juli
2019
|
14:25
Europe/Amsterdam

Zahnmedizin auf dem Prüfstand

Internationales Expertenteam kritisiert weltweite Versorgungssysteme

In einer Artikel-Serie der renommierten Fachzeitschrift Lancet üben Wissenschaftler aus mehreren Ländern Kritik an dem aktuellen Stand der Zahnmedizin. Die globalen Versorgungssysteme seien mangelhaft und insbesondere in Ländern mit mittleren und niedrigen Einkommen sei die Versorgung unzureichend. Die Autoren identifizieren vor allem Mängel hinsichtlich wirksamer präventiver Strategien um die Entstehung von Zahnschäden und deren Folgen bevölkerungsweit zu vermeiden.

Einer der Mitautoren ist Professor Stefan Listl von der Sektion Translationale Gesundheitsökonomie der Poliklinik für Zahnerhaltungskunde am Universitätsklinikum Heidelberg. Im Interview spricht er über die Versorgungssituation weltweit und in Deutschland.

Sehr geehrter Herr Professor Listl, wie schätzen Sie die zahnmedizinische Versorgungssituation in Deutschland ein?

Auf den ersten Blick gut. Die globalen Probleme sind vor allem darauf zurückzuführen, dass in Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommensniveau ein Zugang zu zahnmedizinischer Versorgung für Großteile der Bevölkerung erheblich erschwert bzw. gar nicht vorhanden ist. Das sieht im reichen Deutschland etwas anders aus. Doch auch hier kommt die Prävention in manchen Bereichen zu kurz. Es gibt gesellschaftliche Gruppen, die aus verschiedenen Gründen nie den Weg in die Zahnarztpraxis finden und wenn Zahnmedizin erst beim Zahnarzt anfängt sind diese Gruppen zahnmedizinisch schlicht und ergreifend nicht gut versorgt.

Und es ist auch die Frage, ob wir uns diese Form der Versorgung längerfristig leisten können und wollen. Im weltweiten Vergleich geben wir in Deutschland pro Kopf und Jahr mehr für zahnmedizinische Behandlungen aus als viele andere Länder. Trotzdem leiden auch hierzulande viele Personen an vermeidbaren Folgen solcher Erkrankungen. Der dadurch entstehende Verlust an Produktivität, weil Betroffene nicht ihrem gewohnten Arbeitsalltag nachgehen können, wird auf etwa 12 Milliarden Euro jährlich geschätzt. Andere Einbußen für die Lebensqualität der Betroffenen sind in dieser Berechnung übrigens noch gar nicht berücksichtigt.

Wie ginge es denn anders?

Genau damit beschäftigt sich die Artikel-Serie im Lancet. Wir sehen unsere Aufgabe als Wissenschaftler darin, belastbare Zahlen zu liefern. Und es ist so, dass Erkrankungen der Zähne zu den häufigsten nicht übertragbaren Krankheit überhaupt zählen. Außerdem wird in den Publikationen deutlich, dass die Ursachen für Zahnbeschwerden häufig sozialer und finanzieller Natur sind und dass die sozialen und gesellschaftlichen Konsequenzen für die Betroffenen erheblich sind.

Wir kommen zu dem Schluss, dass die Versorgungssituation in vielen Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommensniveau schlichtweg ernüchternd ist. Aber auch in Ländern mit hohem Einkommensniveau weisen die bisherigen zahnmedizinischen Versorgungssysteme weiterhin erhebliche Versorgungslücken auf. Nicht zuletzt ergeben sich durch die derzeitige Art der zahnärztlichen Vergütung finanzielle Anreize zur Unter-, Über- und Fehlversorgung. Auch in Deutschland braucht es mehr präventive und gesundheitsfördernde Maßnahmen, die bevölkerungsweit wirksam sind. Dazu zählen eine wirksame Regulierung von Risikofaktoren wie Rauchen, Zucker und auch Alkohol, aber auch eine Einschränkung von Werbung für zuckerhaltige Getränke. Außerdem kritisieren wir, dass die Finanzierung der zahnmedizinischen Forschung teilweise auch durch Firmen erfolgt, die ihr Geld mit dem Vertrieb von zuckerhaltigen Produkten verdienen.

Was sagen denn Ihre Kollegen zu Ihren Forderungen?

Das wird sich zeigen. Die Lancet Oral Health Series beschreibt die weltweite Situation der zahnmedizinischen Versorgung und unsere Interpretation davon. Das ist der Start einer Diskussion auf die wir uns freuen, nicht das Ende. Ich bin jedenfalls gespannt darauf, ob und wie sich die Fachgesellschaften, die Politik oder auch andere Gruppen dazu äußern.

Weitere Informationen

Zur Lancet Artikel-Serie "Oral Health"