Seite 38-39 - Klinikticker Juli - August

Basic HTML-Version

39
38
Geschichte des Instituts
Das Heidelberger Institut für Humangenetik ist heute das größte
Institut seiner Art in Deutschland. Die Institutionalisierung der Hu-
mangenetik – einem nach dem Zweiten Weltkrieg belasteten Fach-
gebiet – ging jedoch zunächst nur schleichend voran. Erst ab den
1960er Jahren wurden in der Bundesrepublik vermehrt humange-
netische Lehrstühle in den medizinischen Fakultäten eingerichtet.
Dazu gehört der im Jahr 1962 neu gegründete
Lehrstuhl in Heidelberg.
Bis Mitte der 1950er unterrichtete in Heidelberg
der Schweizer Anthropologe Adolf Portmann. Da
Portmanns Gastprofessur auf Dauer nicht genü-
gen konnte, bemühte sich die Medizinische Fa-
kultät in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre da-
rum, einen einschlägigen Lehrstuhl einzureichen.
Das Projekt hatte beste Erfolgsaussichten: Im
Jahr 1960 empfahl der Wissenschaftsrat, an jeder
medizinischen Fakultät einen Lehrstuhl für Gene-
tik einzurichten. In Heidelberg wurde er im Herbst
1962 mit dem Berliner Privatdozenten für Human-
genetik Friedrich Vogel besetzt.
Friedrich Vogel – der erste Inhaber des
Heidelberger Lehrstuhls für Humangenetik
Nach seinem Medizinstudium arbeitete Vogel zunächst im Max-
Planck-Institut für vergleichende Erbbiologie und Erbpathologie in
Berlin und leitete dort verschiedene humangenetische For-
schungsprojekte. Insbesondere untersuchte er Mutationsraten
am Beispiel des Retinoblastoms, einer Tumorerkrankung des Au-
ges. Neben der erblichen Form wies Vogel die Existenz einer nicht-
erblichen Form nach. Als Vertreter eines sogenannten Orchideen-
faches profilierte sich Vogel als engagierter Vorreiter seines
Fachgebietes in Forschung und Lehre und wurde bereits 1960 zum
Autor des ersten deutschsprachigen Lehrbuchs der Humangene-
tik, das für viele Jahre Maßstäbe setzen sollte.
Die Ausgangsbedingungen für Vogel in Heidelberg waren vorzüg-
lich. Das neu gegründete Institut war personell und materiell be-
stens ausgestattet, so dass Vogel das Institut innerhalb weniger
Jahre zu einer der größten humangenetischen Forschungseinrich-
tungen der Bundesrepublik ausbauen konnte. Vogel gelang es
auch, der durch die NS-Zeit belasteten deutschen Humangenetik
wieder zu grenzüberschreitenden Forschungskontakten und inter-
nationalem Ansehen zu verhelfen.
Der erste Oberassistent Vogels war Walter Fuhrmann. Als Kinder-
arzt und praktizierender Kliniker war Fuhrmann
prädestiniert, Beratungsdienste wahrzuneh-
men. Gemeinsam mit Vogel veröffentlichte Fuhr-
mann im Jahr 1967 den ersten Leitfaden zur ge-
netischen Familienberatung für Studenten und
Ärzte. Dieser Pionierleistung folgte nur verzögert
eine Institutionalisierung des genetischen Bera-
tungsdienstes: Erst 1975 wurde der Abteilung
Zytogenetik im Institut eine Beratungsstelle an-
geschlossen.
Die erste auswärtige Blut-
probe stammte von einem
Patienten mit Anämie
Während seiner Berufungsverhand-
lungen war Vogel die Ausstattung eines
Chromosomenlabors zugesprochen worden. Dafür gewann Vogel
die Medizinerin Traute M. Schroeder-Kurth. Sie richtete das Labor
in einer Villa in der Heidelberger Mönchhofstraße 15a ein und be-
gann mit der Analyse von Blutproben sämtlicher Institutsmit-
glieder und dem Anfertigen von Karyogrammen. Nachdem sie
rund zwei Dutzend „heimische“ Blutproben untersucht hatte, ana-
lysierte sie Blutproben von Patienten aus Heidelberger Kliniken
und privaten Arztpraxen. Die erste von Schroeder untersuchte
„auswärtige“ Blutprobe stammte von einem 21-jährigen Patienten
der Medizinischen Klinik des Universitätsklinikums Heidelberg. Er
litt an Franconi-Anämie, einer seltenen Form erblicher Blutarmut.
In dieser Blutprobe konnte sie im Februar 1964 Chromosomenbrü-
che sichtbar machen. Traute Schroeder-Kurth stellte damit die
Weichen für einen diagnostischen Nachweis der Franconi-Anämie.
Vogel förderte nicht nur die Zytogenetik und ihre Anwendung als
klinische Dienstleistung. Besonders interessiert war er daran, die
Grundlagenforschung zu entfalten. Seine Aufmerksamkeit galt vor
Das erste Chromosomenlabor
in Heidelberg befand sich in einer
Villa in der Mönchhofstraße
Die Geschichte des Instituts für Humangenetik von 1962 bis 2012
allem der Zellkernarchitektur. Im Jahr 1978 schlug Vogel dem Me-
diziner Thomas Cremer – er hatte Ende der 1970er Jahre am Frei-
burger Institut mit Mikrobestrahlungsexperimenten am Zellkern
begonnen – vor, nach Heidelberg zu wechseln. Hier entwickelte
Cremer molekular-zytogenetische Methoden, um Chromosomen
und deren Anordnung im Zellkern zu visualisieren (FISH-Analyse,
siehe Seite 25). Seine Methode fand vielfältige Anwendungen in
der molekularen, experimentellen und klinischen Zytogenetik.
Forschungen zur chemischen Mutagenese
Von der großen Zahl Chemikalien, mit denen Menschen in Kontakt
kommen können, war bis Anfang der 1960er Jahre nur ein geringer
Anteil untersucht. Im Jahr 1963 begann man in Heidelberg, das
Problem anzugehen. Als Mitarbeiter gewann Vogel den Genetiker
Gunter Röhrborn, der mit der chemischen Mutagenese bereits ver-
traut war. Die Mediziner Engelhardt Schleiermacher und Traute
Schroeder-Kurth ergänzten das Team und übernahmen die zytoge-
netische Arbeiten. Mit seiner Arbeitsgruppe klassifizierte Röhr-
born mutagene Stoffe nach ihrer Gefährlichkeit und trug dazu bei,
die Mutagenitätsprüfung zu institutionalisieren. Darüber hinaus
zielte sein Programm darauf, valide Testmethoden zu entwickeln.
An diesem Vorhaben wurde zuletzt Werner Buselmaier, Vogels
letzter Oberassistent, beteiligt. Als Röhrborn im Jahr 1965 nach
Düsseldorf berufen wurde, verlief die toxikogenetische Arbeits-
richtung im Sande.
Anfang der 1970er Jahre wurde Peter Propping der dritte Oberassi-
stent Vogels. Propping wandte sich verstärkt der psychiatrischen
Genetik zu und erforschte vor allem Neurotransmitter und deren
Rezeptoren. 1981 verfasste er gemeinsammit Vogel eine Monogra-
fie über Vererbung und menschliche Psyche. 1984 wurde Peter
Propping auf den Lehrstuhl für Humangenetik in Bonn berufen.
Einstieg in die Molekulargenetik
Dem Heidelberger Institut gelang ab Mitte der 1980er Jahre der
Einstieg in das molekulargenetische Paradigma. Hans Peter Vogt,
der an der Universität in Nijmegen in der Molekulargenetik ausge-
bildet worden war, entwickelte in Heidelberg ein Forschungspro-
jekt zur Analyse der Funktion männlicher Fertilitätsgene im
menschlichen Y-Chromosom und beteiligte sich an der Etablie-
rung neuer molekularbiologischer Methoden für die Kopplungs-
analyse genetisch bedingter Krankheiten. In Vogts Arbeitsgruppe
baute Marion Cremer ein Labor für die DNA-Diagnostikmonogener
Erkrankungen auf, schwerpunktmäßig der X-chromosomal gekop-
pelten Muskeldystrophie Duchenne. 1986 wechselte Brigitte Ro-
yer-Pokora von der Havard Medical School in Boston (USA) an das
Heidelberger Institut, wo sie ihre Forschungen zum Wilms Tumor,
einem Nierenkrebs bei Kindern, fortsetzte und sich einer Leukä-
mieart, die bei Kindern auftritt, widmete. Royer-Pokora und ihrer
Arbeitsgruppe gelang es, mit molekulargenetischen Methoden die
Deletionen nachzuweisen, die für die untersuchten Krankheiten
ursächlich sind. 1989 kehrte Gudrun Rappold, heute Leiterin der
Abteilung für Molekulare Humangenetik, nach einem Postdoc-
Aufenthalt in England an das Heidelberger Institut zurück. Sie
wandte die damals modernsten Methoden der Molekulargenetik
an, um Geschlechtschromosomen zu charakterisieren.
1995 wurde der Kinderarzt und Molekulargenetiker Claus R. Bar-
tram Nachfolger von Vogel an der Spitze des Heidelberger Insti-
tuts. Seither wird neben der molekulargenetischen Orientierung
auf eine starke klinische Akzentuierung des Faches gesetzt. Um
die Humangenetik zukunftsfähig zu machen, baute Bartram un-
mittelbar nach seinem Wechsel nach Heidelberg die klinischen
Bereiche und Dienstleistungen aus und strukturierte sie neu.
Neben Diagnostik und Beratung erfährt auch die Grundlagenfor-
schung seit Mitte der 1990er Jahre eine besondere Förderung. Auf-
grund des Engagements von Gudrun Rappold hat die Molekulare
Genetik heute einen besonderen Stellenwert im Heidelberger In-
stitut und zeichnet sich durch eine rege Forschungstätigkeit aus,
die im internationalen Kontext große Beachtung findet.
Anne Cottebrune, Institut für Geschichte der Medizin,
Justus Liebig-Universität Giessen
Die erste Abbildung menschlicher Chromosomen
stammt aus Heidelberg. Der Ordinarius für Pa-
thologie, Julius Arnold, veröffentlichte sie 1879
im Archiv für Pathologische Anatomie.
Friedrich Vogel – der erste Lehr-
stuhlinhaber des Fachs Human-
genetik an der Medizinischen
Fakultät Heidelberg.