Seite 42-43 - Klinik Ticker Ausgabe 02 Mai

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MENSCHEN IM KLINIKUM
„Ich wollte eine Revolution“, sagt Edgar Santos, Assistenzarzt in
der Neurochirurgischen Klinik, über sein Medizinstudium in Mexi-
ko. Er mobilisierte Kommilitonen und demonstrierte gegen die mi-
serablen Studienbedingungen an der Medizinischen Fakultät in
Veracruz, z.B. dass pensionierte Professoren ihre Vorlesungen an
meist ebenfalls über 70-jährige Kollegen „vererbten“, mit entspre-
chenden Einbußen in der Qualität des Un-
terrichts. Sein Engagement brachte ihm kei-
ne Sympathien ein: „Der Dekan persönlich
rief mich an und legte mir nahe, die Univer-
sität zu verlassen.“ Er ging – und kämpfte
an der nächsten Universität weiter.
Heute sieht man den 29-Jährigen, der seit
vier Jahren in Deutschland lebt, in seiner
Heimat offensichtlich in einem anderen Licht: Im Dezember 2011
wurde er mit dem „Premio Nacional de la Juventud“, dem Jugend-
Nationalpreis Mexikos, geehrt. Diese höchste Auszeichnung für
mexikanische Staatsbürger unter 30 Jahren, vom Bundespräsi-
denten unterzeichnet und mit einem Stipendium verbunden, wird
in zehn Kategorien vergeben. Edgar Santos erhielt sie für akade-
mische und wissenschaftliche Leistungen. In seiner Bewerbung
äußerte er durchaus auch Kritik. Was die Juroren dann letztlich
überzeugte, weiß er nicht: „Ich habe keine Begründung erhalten,
es gab auch keine Laudatio“, wundert er sich.
Fest steht, dass die Preisträger mit ihren Leistungen die mexika-
nische Jugend ermutigen sollen, sich trotz schwieriger Verhält-
nisse zu engagieren und die mexikanische Gesellschaft aktiv mit-
zugestalten. „Das ist eine paradoxe Situation: Die
Menschen, die für die mexikanische Gesellschaft
eine wichtige Rolle spielen, haben immer ge-
kämpft. Wir sollen sie uns zum Vorbild nehmen,
uns aber gleichzeitig an die bestehenden Regeln
halten.“
An Kampfgeist fehlt es Edgar Santos nicht. Ohne
ihn wäre aus ihm bestenfalls ein schlecht ausge-
bildeter Arzt im ländlichen Mexiko geworden. „In Mexiko gibt es
eine große Kluft zwischen arm und reich, Leuten vom Land und
aus der Stadt“, erklärt er. Für Menschen aus ländlichen Gebieten
ist es schwer, eine gute Ausbildung zu erhalten: „Man glaubt,
dass es unmöglich ist, an die Universität zu kommen – das sagen
uns schon die Lehrer.“ Edgar Santos kommt aus einem Dorf im
Bundesstaat Veracruz, ging in der Nachbarstadt Minatitlan zur
Schule. Mit Fleiß und Ehrgeiz schaffte er die nötigen Noten für das
Medizinstudium, seine Eltern – sein Vater ist selbst Arzt – konnten
ihn finanziell unterstützen.
Zwei Jahre studierte er in Veracruz, dann
wechselte er an die Universität in Puebla.
„Anfangs war ich dort zufrieden, doch spä-
ter musste ich wieder um einiges kämp-
fen“, erinnert er sich. Z.B. wollte er for-
schen und promovieren: „Das war dort fast
unmöglich. An der gesamten Fakultät gab
es nur drei Personen, die sich mit medizinischer Forschung be-
schäftigten. So kann man sich nicht weiterentwickeln!“ Eine Pro-
motion ist in Mexiko ebenso wie die Weiterbildung zum Facharzt
eher unüblich. „Aber ich wollte nicht darauf verzichten, nur weil
jeder andere das tut.“
Also forschte er auf eigene Initiative: „Es war nichts Weltbewe-
gendes, aber dort waren meine Ergebnisse bedeutend. Ich erhielt
„Forschen und promovieren?
In Mexiko fast unmöglich“
Edgar Santos kämpfte in seinem Heimatland für seine
medizinische Ausbildung – und erhielt einen Nationalpreis
einige Posterpreise.“ Sein Praktisches Jahr absolvierte er in einem
privaten Krankenhaus in Mexiko-Stadt. „Das war wie ein Wechsel
aus der Dritten in die Erste Welt“, sagt er heute. Bald schon ärger-
te er sich über die Willkür der Ärzte dort – die Probleme ließen
nicht lange auf sich warten: „Jemandem wurde Geld gestohlen
und man hat mich verdächtigt.“ Einen Monat vor Ende des PJ
musste er gehen.
In Mexiko kam er nicht weiter – und wollte sich damit nicht zufrie-
den geben. Er ließ sich beim Deutschen Akademischen Aus-
tauschdienst DAAD beraten, lernte Deutsch, bewarb sich um ei-
nen Studienplatz in Deutschland und machte in Regensburg einen
Master in Neurowissenschaft. Seit zweieinhalb Jahren forscht er in
Heidelberg am Klinikum und ist seit einem halben Jahr auch in der
Patientenversorgung tätig. Seine Doktorarbeit hat er gerade fertig
geschrieben. „Hier ist das einfach: Es gibt finanzielle Mittel für die
Forschung, man hat die Zeit, reist zu Kongressen – in Mexiko wäre
das alles nicht möglich“, freut sich der Wissenschaftler.
Ob er in Deutschland bleiben will? „Irgendwann will ich nach Hau-
se zurückkehren und etwas für Mexiko machen. Ich bin ja nicht mit
allem unzufrieden: Man kann trotz aller Schwierigkeiten ein gutes
Leben führen und hat alles, was man braucht – solange man sich
nicht fragt, ob alles noch besser sein könnte.“ Bis dahin unter-
stützt er mexikanische Studenten, indem er seine Erfahrungen
weitergibt. So hat er ein Handbuch mit praktischen Tipps rund um
Studium, Praktika, PJ und Fördermöglichkeiten geschrieben, das
in diesem Jahr veröffentlicht werden soll.
Tina Bergmann
Um dahin zu kommen, wo Sie jetzt ste-
hen, haben Sie viel gekämpft. Was treibt
Sie an?
Wenn ich sehe, dass etwas ungerecht ist –
z.B. dass jemand wegen seiner Herkunft
schlecht behandelt wird, oder jemand, nur
weil er Geld hat, andere Menschen aus-
nutzt, Korruption oder Hochschullehrer, die
auf Kosten der Studenten ihren Pflichten
nicht nachkommen – macht mich das wü-
tend. Ich wollte beweisen, dass ich trotz-
dem meinen Weg gehen kann und dieser
Weg richtig ist. Daher habe ich mir immer
mehr Mühe gegeben als andere.
Warum ist Ihre Wahl auf Deutschland ge-
fallen und nicht die nähere USA?
In den USA werden Mexikaner diskrimi-
niert und dagegen wollte ich nicht an-
kämpfen müssen. Daher entschied ich
mich für Europa. Die erste Wahl für Mexika-
ner ist natürlich Spanien wegen der Spra-
che, aber das fand ich zu einfach. Ich nahm
daher Frankreich und Deutschland in die
nähere Auswahl. Bei uns ist es schwie-
riger, Deutsch zu lernen als Französisch,
und es braucht mehr Mut, nach Deutsch-
land zu gehen, weil wir in Mexiko nichts
über Deutschland wissen. Zudem darf man
hier als Ausländer früher als
Arzt arbeiten als in Frankreich.
Ich habe mich daher für
Deutschland entschieden.
Was sind Ihre Ziele für die
nächsten Jahre?
In den nächsten sechs Jahren
möchte ich hier in Deutsch-
land meinen Facharzt machen,
dann ein oder zwei Jahre in
Japan arbeiten. Ein sehr guter
Freund von mir leitet dort eine
kleine Klinik; von ihm kann ich
bestimmt viel lernen. Danach
gehe ich vielleicht zurück nach
Mexiko, das hängt von den po-
litischen Verhältnissen ab.
Sie sagen, Sie wollen etwas für Mexiko
tun. Was schwebt Ihnen vor?
Ich möchte mich in Mexiko politisch en-
gagieren und Veränderungen im Gesund-
heits- und Bildungssystem anstoßen. Es
kann allerdings gefährlich werden, wenn
man zuviel kritisiert oder wenn es um
viel Geld geht. Zudem blockieren kor-
rupte Politiker Veränderungen. Ich habe
aber das Gefühl, Verantwortung für Mexi-
ko zu tragen, und wenn ich sehe, dass
die Politik dort nichts tut, ist das sehr
schwer für mich.
Was gefällt Ihnen hier am Klinikum?
Die Möglichkeit, zu forschen und gleichzei-
tig klinisch tätig zu sein. Zudem habe ich
in Privatdozent Dr. Sakowitz einen hervor-
ragenden Doktorvater und Mentor. Auch
die internationale Atmosphäre am Klini-
kum gefällt mir sehr.
Fünf Fragen an....
Edgar Santos Marcial,
Assistenzarzt in der Neurochirurgischen Klinik
„In Mexiko glaubt man,
dass es für Menschen
aus ländlichen Gebieten
unmöglich ist, an die
Universität zu kommen“
Edgar Santos bei der Verleihung
des „Premio Nacional de la Juve-
ntud“, dem Jugend-Nationalpreis
Mexikos. Er erhielt die höchste
Auszeichnung für mexikanische
Staatsbürger unter 30 Jahren für
seine akademischen und wis-
senschaftlichen Leistungen.
Edgar Santos, Assistenzarzt in der Neurochirurgischen
Klinik, arbeitet seit zweieinhalb Jahren am Klinikum.