Seite 34-35 - Klinikticker November-Dezember 2011

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Die beiden bedeutendsten Schüler Krehls sind Richard Siebeck
(1883-1965) und der drei Jahre jüngere Victor von Weizsäcker
(1886-1957). Sie lassen sich vom Denken Krehls beeindrucken
und lernen sich bereits während des Studiums kennen. Während
Siebeck Kindheit und Jugend als Sohn eines Verlagsbuchhänd-
lers in Freiburg/Br. und Tübingen verbringt, wächst Weizsäcker
im Haushalt des königlich-württembergischen Ministerpräsi-
denten in Stuttgart auf. Richard Sie-
beck beendet das trotz theologischer
Neigungen begonnene Medizinstudi-
um 1906 nach Stationen in Tübingen,
Freiburg, Berlin und nochmals Tübin-
gen. In Freiburg wird er durch die Be-
gegnung mit Johannes von Kries
(1853-1928) geprägt, der ihn für das
naturwissenschaftlich-exakte Arbei-
ten im Bereich der Physiologie begeis-
tert. Auch Weizsäcker findet begeis-
tert zu Kries. Die Anziehungskraft des
Freiburger Physiologen auf die beiden
jungen Mediziner wird aber noch
durch die Ludolf von Krehls übertrof-
fen. Siebeck wird im Oktober 1908
Krehls Assistent. Im Sommersemester
des gleichen Jahres immatrikuliert
sich Weizsäcker in Heidelberg. Er
schließt sein Studium 1909 ab, ver-
bringt 1910 ein halbes Jahr seiner Medizinalassistenten-
zeit bei Krehl. Im Herbst 1911 wird auch von Weizsäcker
Assistenzarzt an der Heidelberger Klinik. Im Labor Krehls betrei-
ben sie zusammen mit Otto Warburg (1883-1970) und Otto
Meyerhof (1884-1951) physiologische Forschungen zur Nieren-
und Muskelphysiologie.
Siebecks „Beurteilung und
Behandlung von Kranken“
Während von Weizsäcker von der Neurologie gefesselt wird, wen-
det sich Siebeck der Sozialmedizin zu. Von 1924 an trennen sich
die Wege der beiden zunächst, denn Siebeck folgt einem Ruf nach
Bonn als Direktor der medizinischen Poliklinik. In den 1920er Jah-
ren, der goldenen Zeit in Siebecks und Weizsäckers Schaffen, ent-
wickeln beide die Basis ihrer medizinischen Konzepte. Einig sind
sie sich in der Hinwendung zum Kranken mit seiner je eigenen
Persönlichkeit und Geschichte. Während Weizsäcker diese Idee
bis zum Entwurf einer völlig neuen Medizin weiterführt, bleibt Sie-
beck zunächst noch stark naturwissenschaftlich orientiert, wenn-
gleich erfüllt von der Idee einer Zuwendung zur ganzen Persönlich-
keit des Patienten. In einem Brief an Karl Barth vom 30. Oktober
1920 umreißt Siebeck: „Wir müssen wieder mehr Wert legen auf
den kranken Menschen, auf das Individuum als Ganzes. Es gibt
nicht Krankheiten, es gibt auch keine einzelnen Erscheinungen, es
gibt nur kranke Menschen“.
Weizsäckers „Gestaltkreis“
Viktor von Weizsäcker versucht, das Pro-
blem durch eine umfassende Theorie der
„medizinischen Anthropologie“ (1927) zu
lösen. Die experimentelle Grundlage bil-
den dabei Versuche zum sog. „Gestalt-
kreis“. Schon 1927 verdeutlicht Weizsä-
cker, was er sich unter einem Gestaltkreis
vorstellt: „Wenn ich bei geschlossenen
Augen einen Schlüssel abtaste, so hängt
Form und Folge der Reize auf meinen Tast-
organen von Form und Folge meiner Tast-
bewegungen ab; die Reizgestalt ist also
von zwei Seiten determiniert: vom Objekt
und von der Reaktion. Den Gesamtvorgang
können wir jetzt als einen Kreispro-
zess verstehen, indem die Kette der
Ursachen und Folgen in sich zurück-
läuft in Bezug auf das Gestaltetsein
des Vorgangs“.
Auch das Leib-Seele-Verhältnis ist für Weizsäcker ein Gestalt-
kreis, bei dem sich seelische und körperliche Funktionen (und
damit auch Krankheitssymptome) gegenseitig vertreten können.
Die Aufdeckung dieser Zuordnungen und ihres verborgenen
Sinnes bzw. „Wertes“ für den Patienten wird Aufgabe der neuen
„anthropologischen Medizin“ sein. „Wenn [hier] also ein Sche-
ma [dazu] aufgestellt werden soll“, schreibt Weizsäcker, „dann
darf es eben nicht bilateral gebaut sein, sondern es muss schon
Kreisform haben: Das Psychische ‚wirkt’ nicht nur auf das Phy-
sische, sondern auch umgekehrt dieses wieder auf das Psy-
chische. Jedes wirkt aufs andere, das Ganze ist nicht als Kausal-
kette, sondern als in sich geschlossener Kreisprozess zu denken
und nur als ein Werden darstellbar, in welchem man nicht weiß
und auch gar nicht zu wissen braucht, wer angefangen hat – der
sogenannte psychische oder der sogenannte physische Faktor“.
Die Interaktion von Physis und Psyche ist also für Viktor von
Richard Siebeck, Viktor von Weizsäcker und die Anthropologische Medizin
Medizin in Bewegung:
Der Mensch rückt in den
Mittelpunkt
Weizsäcker der Schlüssel für eine prak-
tische, integrative Medizin der Zukunft.
Gefährdungen und
Annäherungen in der Zeit
der Diktatur
Als im Januar 1933 die Nationalsozialisten
die Macht ergreifen, befindet sich Richard
Siebeck wieder in Heidelberg. Er ist nun
Nachfolger Krehls als Chef der Medizi-
nischen Klinik. Im April 1933 wird er als De-
kan der Medizinischen Fakultät mit der
geplanten Entlassung der jüdischen Pro-
fessoren konfrontiert. Als einzige Fakultät
protestiert die Medizinische gegen die Ent-
lassungen, wenn auch vergeblich. Gleich-
wohl sollte es später, in seiner Zeit als Di-
rektor der I. Medizinischen Klinik der
Charite in Berlin, durchaus auch kooperie-
rende Berührungspunkte Siebecks mit
dem Nationalsozialismus geben.
Viktor von Weizsäcker hält im Sommerse-
mester 1933 in Heidelberg Vorlesungen
über „Allgemeine Therapie“. Er erläutert
seine Krankheitslehre, die im Begriff der
„sozialen Krankheit“, also der „Nichtein-
gliederung des Einzelnen in die Gesamt-
heit“, gipfelt. Die Therapie besteht aus Ar-
beit. Zum Tragen kommt aber auch der bei
Weizsäcker verinnerlichte Opfergedanke.
Wenn der Sinn des Lebens nicht in diesem
selber liegt, sondern außerhalb, im Opfer
und Tod, dann eröffnet sich für die Medizin
durchaus „ein Feld der rationalen Vernich-
tungspolitik“; wenn „Eingliederung und
Verwertung“ scheitern, dann bekommt
auch eine Politik der Ausmerze unwerten
Lebens ihren Sinn: „Einer erbbiologisch
begründeten Medizin der Auslese und zu-
gleich der Vernichtung fällt daher ein über-
aus wichtiger, aber schmaler Raum im Ge-
samtaufbau sozialer Therapie zu. Ein
erbbiologisch entstandener Minderwert ist
ja auch dann auch ein Minderwert im Vol-
ke, wenn er der Idee dieses Volkes wider-
spricht. Ob dies der Fall ist, kann aber
nicht medizinische Biologie entscheiden,
sondern der führende Träger dieser Idee
[...].“ Und weiter heißt es bei von Weizsä-
cker: „Hoch zu begrüßen ist jeder Versuch,
durch Verhütung der Fortpflanzung der
Ausbreitung furchtbarer Leiden Halt zu ge-
bieten“.
Nachkriegszeit
und Bedeutung
Nach dem Krieg zeigt sich Siebeck, seit
1941 wieder Direktor der Heidelberger Me-
dizinischen Klinik, von der Mitschuld an
den nationalsozialistischen Verbrechen
tief betroffen. Dagegen weist Weizsäcker
die Schuld an den begangenen ärztlichen
Verbrechen der von ihm bekämpften „Me-
dizin“ zu, „welche die Krankheit nur als ein
naturwissenschaftlich-biologisches Fak-
tum betrachte[t]“ (1947) und den Men-
schen wie ein Kaninchen oder ein Molekül.
Siebeck überlässt seinem Freund und Kol-
legen 1946 eine Abteilung der Medizi-
nischen Klinik, die mit einem eigens für
Weizsäcker geschaffenen Lehrstuhl für
„Allgemeine Klinische Medizin“ ausgestat-
tet wird, auf die sich die heutige Abteilung
„Psychosomatische und Allgemeine Kli-
nische Medizin“ in Ihrer Vorgeschichte be-
ruft. Weizsäcker und Siebeck sollten in der
Nachkriegszeit noch einmal ihre Gedanken
aus den zwanziger und dreißiger Jahren
aufgreifen. Siebeck veröffentlicht 1949
sein Spätwerk „Medizin in Bewegung“,
Weizsäcker 1956 die „Pathosophie“, die er
noch vor seiner schweren Erkrankung 1951
vollendet. Über den Tod Weizsäckers am 8.
Januar 1957 und Siebecks am 15. Mai 1965
hinaus sollten die Gedanken dieser beiden
Männer auf den Schultern Ludolf von Krehls
von Bedeutung für die psychosomatische
Medizin in Heidelberg bleiben.
Wolfgang U. Eckart
Direktor des Instituts für Geschichte und
Ethik der Medizin
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MEDIZINGESCHICHTE
Richard Siebeck (1883 – 1965): „Es
gibt nicht Krankheiten, es gibt auch
keine einzelnen Erscheinungen, es
gibt nur kranke Menschen“.
Victor vonWeizsäcker (1886 – 1957) mit Tochter Cora.
Victor von Weizsäcker mit seiner
Ehefrau Olympia Curti (1919).