Seite 24 - Klinikticker 3 2013

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Medizingeschichte
Krieg und Grippe – Die spanische
Influenza von 1918
IN ZWEI WELLEN IM FRÜHJAHR UND IM HERBST ERREICHTE DIE GRIPPE DAS KAISERREICH UND
ÜBERSCHATTETE TEILS SOGAR DAS KRIEGSGESCHEHEN
A
ndermehr als 750Kilometer langenWestfront
tobten zwischen der Schweizer Grenze und
der Kanalküste die letzten Schlachten des
Stellungskrieges. In Deutschland hungerten die
Menschen. Alles war knapp, bis auf Gefallenenmel-
dungen. Das letzte Kriegsjahr war angebrochen, und
die Katastrophe desWeltkriegs nahm ihren Lauf.
Und dochwar das Kriegselend noch zu steigern, denn im
Frühjahr 1918 suchte eine Pandemie von verheerenden
Ausmaßen nicht nur alle Kriegsparteien, sondern auch
große Teile der Weltbevölkerung heim: Die spanische
Influenza. Sie sollte zwischen April 1918 und Frühjahr
1919weltweitmehr als 35MillionenMenschendasLeben
kosten. Heutewissenwir, dass dieser Influenza­ausbruch,
für den der damals vermutlich neue Influenza-Subtyp
A/H1N1 verantwortlich war, die größte Grippe-Pande-
mie des 20. Jahrhunderts markierte. Die Krankheit ver-
lief insbesondere bei jüngeren Menschen, und keines­-
wegs den schwächsten, dramatisch und oft tödlich.
Ältere blieben erstaunlicherweise verschont. War der
Virus-Subtyp A/H1N1 vielleicht doch nicht neu?
Wo die verheerende Influenza des letzen Kriegsjahres
1918 wirklich ausgebrochen ist, wird wohl für immer
ungeklärt bleiben; aus Spanien kam sie jedenfalls nicht,
von dort wurde sie nur gemeldet. Sicher scheint aber
zu sein, dass diese große Grippewelle überwiegend mit
amerikanischenTruppentransportern imFrühjahr 1918
Europa erreichte, nachdem sie in einem Militärlager in
Haskell County (Kansas) zumerstenMal wie von einem
“I had a little bird, its name was Enza.
I opened the window, and in-flu-enza.”
Kindervers, 1918
geheimnisvollenWind herangetragen ausgebrochenwar.
In einem Kindervers hiess es: “I had a little bird, its
name was Enza. I opened the window, and in-flu-enza.”
Anders als in der US Army und Navy, wo man die Her-
kunft der Influenzaepidemie aus Europa durch Truppen­
rücktransporte ebenso nüchtern als gesichert be-
trachtete, hielten sich in der Bevölkerung ganz andere
Theorien der Krankheitsentstehung. In großer Zahl
erreichten das Büro des U.S. Surgeon General hierzu
wohlmeinende Briefe aus der Bevölkerung. Häufig
wurde in diesen Briefen der Ausbruch der Seuche „dem
deutschen Element“, deutschen Spionen oder auch deut-
schen U-Boot-Besatzungen zugeschrieben, die die nord-
amerikanischen Ostküstengewässer verseucht hätten.
Solche Briefe waren imGrunde nicht ungewöhnlich; sie
entsprachen der Furcht vor den Deutschen und misch-
ten sich mit der wachsenden Abneigung sogar gegen ein-
gebürgerte Deutschamerikaner. In einem Brief vom 30.
September 1918 hieß es:
„Es liegt ja auf der Hand, dass deutschfreundliche Ele-
mente unter Führung deutscher Agenten diese böse
Seuche in unseren Kasernen und unter der Bevölkerung
verbreiten wollen. […] Am besten noch, wir nehmen das
Blut der Armen, die an der Grippe-Pneumonie verstor-
ben sind, ziehen es auf sterilisierte Flaschen undwerfen
diese dann aus Flugzeugenüber Deutschland ab. Schickt
ihnen das Blut der Getöteten bis es ihnen aus den Ohren
läuft“.
Die Grippe des Jahres 1918 bezog mit ihren zwei Wellen
im Frühjahr und im Herbst Quartier in jedem Winkel
des Kaiserreichs und überschattete teils sogar das
Kriegsgeschehen. Auf dem Höhepunkt der zweiten
Welle schrieb der Heidelberger Historiker Karl Hampe
am 12. Oktober 1918 in sein Tagebuch: „Die Grippe führt
jetzt hier zu schweren Verwickelungen; in der letzten
Woche gab es sechzig Todesfälle!“ und ergänzte: „Die
politischen Sorgen lassen mich nicht recht schlafen;
sobald man einen Augenblick wacht, fällt es wie eine
schwere Last auf einen“. Dass der Historiker sich mehr
um den drohenden politischen Zusammenbruch sorgte
als um Fieber und Schnupfen, noch war er selbst nicht
Schon 1918 versuchten
sich die Menschen mit
Atemschutzmasken
gegen den Erreger zu
schützen
Bildquelle: Stadtarchiv
Heidelberg