Seite 25 - Klinikticker 3 2013

Basic HTML-Version

Medizingeschichte
25
betroffen, liegt auf derHand. In der Bevölkerung standen
die Dinge anders. In Hampes Tagebuchnotiz vom 20.
Oktober liest man: „Die städtische Bevölkerung steht
gegenwärtig noch mehr unter dem Eindruck der bösar-
tigen Grippe als unter dem der großen Niederlagen. Der
Dienstboten- und Pf legermangel, die Überfüllung der
Kliniken erhöhen die Not. […] Dabei scheuen sich die
meisten Menschen, in solche Grippewohnungen zu
gehen, als seien es Pesthöhlen. […] Gegen diese Krank-
heiten wünscht man trockenes, warmes Wetter, für die
Front abermöglichstenDauerregen. Die Abwehrkämpfe
sind noch immer schwer“.
Vor demHintergrund einer in den letztenKriegmonaten
geradezu auf gigantische Ausmaße angewachsenen Licht­
spieleuphorie – man hatte ja sonst kaum mehr andere
Vergnügungsmöglichkeiten - beriet der Stadtrat Mann-
heims am 17. Oktober den Entscheid des Ortsgesund-
heitsrates, außer allen Mannheimer Schulen auch die
Vergnügungsstätten der Stadt schließen zu lassen. Doch
das Karlsruher Innenministerium lehnte ab. Es könne
getrost „der Bevölkerung überlassen“ bleiben, „ihr Ver-
halten zu bestimmen“. Die Mannheimer „Gesellschaft
der Aerzte“ war erbost und ließ am 21. Oktober imGene-
ralanzeiger eine Notiz dazu schalten, in der es hieß: „Die
Seuche hat in hohemMaße an Ausdehnung und Gefähr-
lichkeit zugenommen. Die Aerzte sind an der Grenze
ihrer Leistungsfähigkeit. Die Krankenhäuser sind über-
füllt, das Pflegepersonal in der unerhörtestenWeise über­
lastet, aber ruhig laden nach eintägiger Pause die
Litfaßsäulen zum Besuch von allen möglichen Zusam-
menkünften ein, der besten Gelegenheit, die Epidemie
weiterzuverbreiten“.
Das stimmte so nicht, denn Versammlungs- oder Schul-
verbote hätten auch nichts mehr an der Verbreitung der
Inf luenza ändern können. Und so blieben die „Vergnü-
gungsstätten“ der Stadt ebenso weiterhin geöffnet, wie
in München, Frankfurt oder Berlin und an vielen ande-
ren Orten. ImMannheimer Lichtspielhaus Colosseum
gab man ab Anfang November die Filme „Getrennte
Welten“ und den „Sturz der Menschheit“. Es scheint so,
als ob die gesteigerte Theatersucht nicht nur dem bei
schweren Seuchenbedrohungen immer wieder berichte-
ten Laissez-faire der Menschen angesichts des drohen-
den Seuchentodes entsprochen hätte, sondern dass hier
ganz offensichtlich ein langfristiger kultureller Konsum­
trend durch den Krieg nur unterbrochen worden war
und sich nun angesichts des nahenden Kriegsendes aller
Obrigkeit zumTrotz wieder durchsetzte.
In der Heidelberger
Stadthalle wurde ein
Lazarett eingerichtet.
Bildquelle: Institut für
Geschichte und Ethik
der Medizin
„Gegen diese Krankheiten wünscht man
trockenes, warmes Wetter,
für die Front aber möglichsten Dauerregen.“
Karl Hampe, Heidelberger Historiker, 1918
Im späten Frühjahr 1919 klang die Grippe ab, und die all-
gemeine Not der Nachkriegszeit drängte wieder stärker
ins Bewusstsein. Hunger herrschte allerorten. Und auch
bei den Infektionskrankheiten hatte man nun andere
Sorgen, denn die von den Fronten zurückflutenden Solda-
tenmassen brachten Syphilis und Tuberkulose in erheb-
lichenAusmaßenzurück insReich. 
–WolfgangU. Eckart