Seite 38-39 - KlinikTicker Ausgabe1 M

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TITELTHEMA
Vom Gehilfen des
Chirurgen zum
gleichberechtigten Partner
Eine Operation bei vollem Bewusstsein? Eine Amputation von Fuß
oder Bein unter qualvollen Schmerzen? Ein solches Horrorszena-
rio ist heutzutage unvorstellbar. Doch bis die Narkose in der Mitte
des 19. Jahrhunderts erfolgreich etabliert wurde, waren Opium
und Alkohol die einzigen Mittel, die Schmerzen bei chirurgischen
Eingriffen milderten. Operationen wurden nur im äußersten Not-
fall und in höchster Eile durchgeführt, während der Patient von
starken Männern festgehalten werden musste. Die Narkose ist ein
Meilenstein in der Geschichte der Medizin, mit der sich die Fach-
disziplin der Anästhesie entwickelte. Untrennbar mit ihrer Ge-
schichte verknüpft ist auch die Geschichte der Intensivmedizin. In
den 1930er Jahren wurden Vorläufer der
heutigen Intensivstationen aufgebaut: die
sogenannten Wachstationen, auf denen
die Frischoperierten überwacht wurden –
bis dahin allein Aufgabe des Pflegeperso-
nals. Die künstliche Beatmung blieb zu-
nächst dem Operationssaal vorbehalten.
Während einer Polio-Epidemie in Kopenha-
gen zeigte sich 1952, dass relaxierte und
bewusstlose Patienten kritische Phasen
der Atemlähmung besser überstanden. Zu-
vor hatten sie verzweifelt versucht, ihre ei-
gene Atmung aufrecht zu erhalten. Diese
Anstrengung wirkte der angebotenen Beat-
mung entgegen. Medizinstudenten wurden
kurzfristig geschult und versorgten die Pati-
enten per Hand-Atem-Beutel mit der le-
benswichtigen Luft. Die ersten Intensivsta-
tionen waren geboren und senkten die
Sterblichkeit der Polio-Kranken, die unter
einer unzureichenden Atemfunktion litten,
von 80 auf 25 Prozent.
Chloroform, Chelius und
Czerny: Einzug der Narkose
in Heidelberg
In Heidelberg begann die Geschichte der
Anästhesie in den 1850er Jahren mit dem
Chirurgie-Professor Maximilian Joseph von
Chelius. Einige Jahre nach den ersten Narko-
seversuchen in Deutschland narkotisierte er
auch in Heidelberg die ersten Patienten. Chelius und seine Nach-
folger Karl Otto Weber und Gustav Simon verwendeten dabei über-
wiegend Chloroform, das von fast allen europäischen Chirurgen
bevorzugt wurde. Unter Vincenz Czerny experimentierten die Hei-
delberger Ärzte ab 1877 mit unterschiedlichen Narkosegasmi-
schungen. Die Patienten atmeten damals spontan, wurden also
nicht beatmet, und auch eine Überwachung der Vitalfunktionen,
zum Beispiel von Herzschlag und Atmung, war zunächst unüblich
– ein hohes Risiko für die Operierten. Franz Kuhn führte zwar
schon 1905 die erste Intubationsnarkose in Heidelberg durch,
trotzdem sollten noch fast 50 Jahre vergehen, bevor sich das Ver-
fahren in der klinischen Anwendung durchsetzen konnte.
Trotz vieler neuer Verfahren, Apparate und Medikamente kam es
in der Vorkriegszeit in ganz Deutschland zu einem Stillstand in der
Entwicklung der klinischen Anästhesie. Grund waren vor allem die
Vorbehalte der Chirurgen gegenüber den selbstständig tätigen An-
ästhesisten. Das Berufsbild entwickelt sich erst nach dem Krieg.
So war es bis in die Nachkriegszeit üblich, dass das Pflegeperso-
nal die Patienten narkotisierte. Während dessen spezialisierte
sich die Anästhesie im anglo-amerikanischen Raum kontinuierlich
weiter und verhalf damit der Chirurgie zu enormen
Fortschritten. Diese Entwicklungen lösten schließ-
lich auch in Deutschland ein Umdenken aus und
ebneten den Weg für gut ausgebildete Narkosespe-
zialisten.
Intubation und Spezialisierung:
Modernisierung ab 1950
Im Jahr 1950 wurde die Anästhesie in Heidelberg
modernisiert. Die amerikanische Anästhesistin Jean
Henley unterrichtete während eines Gastauf-
enthalts Rudolf Frey und Otto Just. Sie schulte
die beiden in Heidelberg mit der Narkose be-
auftragten Ärzte in der endotrachealen Intuba-
tion. Dabei werden die Patienten mittels einer
Hohlsonde aus Kunststoff, die durch Mund oder
Nase eingeführt wird, beatmetet. Heute ist diese
Art der Intubation ein Standardverfahren zur Siche-
rung der Atmung in der Anästhesie, Intensiv- und
Notfallmedizin. Außerdem machte Jean Henley die
beiden Mediziner mit den neuen Narkoseappara-
ten vertraut. Im selben Jahr richtete der Chirurgie-
Professor Karl Heinrich Bauer in Heidelberg eine
der ersten Anästhesieabteilungen Deutschlands
ein: die „Narkosestaffel“ unter der Leitung von Ru-
dolf Frey. Er baute eine moderne, leistungsfähige
Abteilung auf, die sich die Anerkennung vie-
ler zunächst skeptischer Chirurgen erarbei-
tete. Im Jahr 1962 übernahm Otto Heinrich
Just die Leitung der Abteilung – zunächst in
der Position eines Oberarztes der chirur-
gischen Universitätsklinik. 1963 wurde schließlich der erste Hei-
delberger Lehrstuhl für Anästhesiologie geschaffen und Otto Hein-
rich Just zum Professor berufen. Er entwickelte die
Anästhesieabteilung und spätere Klinik für Anästhesiologie konti-
nuierlich fort: Das Team weitete die Leistungen auf alle operativen
Bereiche aus und verzeichnete wissenschaftliche Erfolge. Unter
Otto Heinrich Just entwickelte sich der Status des Anästhesisten
vom Gehilfen des Operateurs zu dem eines gleichberechtigten
Partners. 1990 übernahm Eike Martin dieses Fundament und
schuf den heutigen Status der Heidelberger Anästhesie.
red
Operationssaal in der Chirurgischen Klinik 1941: Nach dem Eingriff wurden die
Frischoperierten auf Wachstationen gebracht. Intensivstationen im heutigen Sinne
mit beatmeten Patienten gibt es erst seit Anfang der 50er Jahre. Alle Fotos auf dieser
Seite: Universitätsarchiv Heidelberg
Rudolf Frey, von 1950 bis 1960
Leiter der „Narkosestaffel“.
Maximilian Joseph von Chelius
narkotisierte um ca. 1850 die er-
sten Patienten in Heidelberg.
Die Geschichte der Intensivmedizin in Heidelberg
ist eng mit der Entwicklung der Anästhesie zur
eigenständigen Fachdisziplin verbunden