Seite 26-27 - Klinikticker Juli - August

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Genetische Diagnosen
Im Labor von Dr. Rolf Köhler werden die Proben von
Blutkrebs-Patienten auf minimale Reste der Erkran-
kung untersucht, um die Wahrscheinlichkeit eines
Tumor-Rezidivs frühzeitig zu erkennen.
„Weißes Blut“ notierte Rudolf Virchow 1845, als er das Blut eines
Patienten mit dem Mikroskop untersuchte. Die „Proportion zwi-
schen den roten und farblosen (in Masse weißen) Blutkörper-
chen“, schrieb er, „scheint umgekehrt zu sein.“ Der berühmte Arzt
der Charité gab dem Krankheitsbild den Namen Leukämie, „Weiß-
blütigkeit“. Heute steht der Begriff für eine Gruppe von Bluterkran-
kungen, denen gemeinsam ist, dass sich unterschiedliche weiße
Blutkörperchen stark vermehren, die Blutbildung stören und ge-
sunde Blutzellen verdrängen. Unterscheiden lassen sich die ver-
schiedenen Blutkrebsarten mittlerweile bis auf die Zelle und das
Molekül genau mit zytogenetischen und molekularbiologischen
Methoden. Die neuen Verfahren können auch anzeigen, wie ein
Patient behandelt werden muss.
Die akute lymphatische Leukämie (ALL) ist die häufigste Krebser-
krankung bei Kindern. Sie ist eine der Krebsarten mit „Erfolgsge-
schichte“: Über 80 Prozent der Patienten sind heute heilbar. Zu
verdanken ist das einer stetig optimierten Therapie mit zelltei-
lungshemmenden Medikamenten und Methoden wie der „MRD-
Analytik“, mit der minimale Reste der Erkrankung erkannt und in-
tensiver behandelt werden können (MRD = Minimal Residual
Disease).
Wichtig ist es, nach einer Behandlung noch im Körper verbliebene
Krebszellen aufzuspüren, da sich diese vermehren können. „Mit
der MRD-Analytik gelingt es, eine einzige verbliebene Leukämie-
zelle unter 10.000 bis 1.000.000 normaler Zellen zu finden“, sagt
Dr. Rolf Köhler, Leiter des Labors „Leukämie/ MRD“. So kann ein
Rezidiv frühzeitig erkannt und verhindert werden. Mit der her-
kömmlichen mikroskopischen Methode ließe sich im besten Fall
eine entartete Zelle unter 100 normalen Zellen identifizieren.
Das Aufspüren der „Nadel imHeuhaufen“ gelingt mit der Polymerase-
kettenreaktion (PCR), einer Anfang der 80er Jahre erfundenen Ko-
piermethode, mit der Erbsubstanz beliebig oft vervielfältigt werden
kann. Zur MRD-Analyse hinzukommen müssen spezielle Sonden.
Sie markieren genetische Veränderungen, die für Leukämiezellen
charakteristisch sind – mit der PCR lassen sich die markierten Fund-
stücke dann so oft vervielfältigen, dass sie gleichsam nicht mehr zu
übersehen sind. An der Entwicklung und klinischen Einführung des
MRD-Verfahrens waren Professor Claus Bartram und die Mitarbeiter
seiner Arbeitsgruppe maßgeblich beteiligt.
Die Blutproben nahezu aller Patienten, die in Deutschland an ALL
erkranken, werden im Labor von Rolf Köhler mit dem MRD-Verfah-
ren analysiert. „Die Leukämiezellen“, erklärt Köhler, „haben ihre
jeweils eigenen genetischen Rechtschreibfehler.“ Diese Fehler
müssen die Wissenschaftler erkennen, um die geeigneten Son-
den-Unikate zu basteln. Innerhalb von zehn bis 14 Tagen liegt das
Ergebnis der molekulargenetischen Analyse vor, und die Kranken
können in Gruppen mit niedrigem, mittlerem und hohem Rezidiv-
Risiko eingeteilt werden. Diese Aufteilung ermöglicht eine indivi-
duelle und erfolgreiche Therapie.
Auf der Jagd nach Tumorzellen
„Mit der MRD-Analytik gelingt es, eine
einzige verbliebene Leukämiezelle
unter 10.000 bis 1.000.000
gesunden Zellen aufzuspüren.“
Ist der Krebs besiegt, oder sind noch Krebszellen im Körper
verblieben? Das Aufspüren der „Nadel im Heuhaufen“ gelingt
mit der MRD-Analytik. Das Foto zeigt eine schematische Abbil-
dung von Immunglobulin (IgH) und T-Zellrezeptor (TCR).
Katrin Hinderhofer fahndet mit
modernster Technik nach folgen-
schweren Rechtschreibfehlern im
menschlichen Erbgut.
Vor der DNS sind alle gleich. Ob mikrosko-
pisch kleiner Einzeller, Dinosaurier oder
Mensch – Lebewesen sind in ihrer Vielfalt
nur Variationen eines Themas, das im ge-
netischen Code geschrieben steht. Die
Sprache des Lebens ist identisch. Deshalb
kann man im Buch des Lebens ohne Über-
setzungsprobleme lesen: Katrin Hinderho-
fer hat das früher bei Pflanzen getan, heu-
te liest sie im Erbgut des Menschen.
Die Biologin und Fachhumangenetikerin
leitet seit Ende 2010 das Labor für Moleku-
largenetische Diagnostik. Ihre Aufgabe ist
es, im Erbgut nach folgenschweren Recht-
schreibfehlern zu fahnden, die Menschen
bereits in die Wiege gelegt sind, etwa mu-
tierte Erbanlagen, die es wahrscheinlicher
machen, an Brust- oder Darmkrebs zu er-
kranken. Neben familiär gehäuft auftre-
tenden Tumorerkrankungen identifizieren
Katrin Hinderhofer und ihre Mitarbeiter
auch angeborene Stoffwechselerkran-
kungen wie die Phenylketonurie: Wenn
Kinder von beiden Eltern je ein mutiertes
Gen vererbt bekommen, führt die Erkran-
kung unbehandelt zu einer schweren Hirn-
schädigung, weil der kindliche Organis-
mus nicht imstande ist, ein Enzym
herzustellen, das die Aminosäure Phenyla-
lanin abbaut. Ein dritter Arbeitschwer-
punkt ist die Diagnose von Störungen und
Erkrankungen des Nervensystems, bei-
spielsweise des Fragilen-X-Syndroms,
eines der häufigsten Gründe für erbliche
kognitive Beeinträchtigungen. Ursache ist
eine genetische Veränderung auf dem X-
Chromosom, die als potenzielle Bruchstel-
le – als sogenannter fragiler Bereich –
nachgewiesen werden kann. „Pro Jahr
untersuchen wir rund 2.000 Patientenpro-
ben“, erklärt Katrin Hinderhofer. Das
macht ihr Labor zu einem der größten aka-
demischen Zentren für molekulargene-
tische Tests in Deutschland.
Um veränderte Erbanlagen unter den rund
22.000 Genen des Menschen ausfindig zu
machen, bedarf es einer aufwändigen Auf-
arbeitung und einer ausgeklügelten Tech-
nik. Die Arbeit beginnt zumeist mit der
Blutprobe. Aus den Blutzellen lösen die
Wissenschaftler das Erbmolekül heraus,
um daraufhin die Abfolge seiner Bausteine
(Basen) oder die Kopienzahl einzelner Ab-
schnitte des Genoms zu bestimmen. Bei
der molekulargenetischen Testung helfen
verschiedene „Lesehilfen“ wie die Polyme-
rasekettenreaktion (PCR), die Sequenzie-
rung oder sogenannte Microarrays, auch
Genchips genannt. Die Techniken machen
es möglich, die Basen des Erbmoleküls der
Reihe nach zu lesen und selbst den
kleinsten Schreibfehler zu entdecken.
Doch die Technik allein ist nicht alles. „Es
braucht sehr viel Erfahrung, um zu ent-
scheiden, ob das, was man sieht, auch
krankheitsrelevant ist“, sagt Katrin Hinder-
hofer. Ihr Ziel in der praktischen Arbeit ist
es, „sehr gute Qualität in einem akzep-
tablem Zeitrahmen zu liefern“. Das Ergeb-
nis einer molekulargenetischen Analyse
liegt derzeit in zwei bis sechs Wochen vor.
Der nächste Schritt in die Zukunft sind soge-
nannte Next-Generation-Sequenzierer, die
demnächst auch in Heidelberg einen Platz
finden sollen. Mit den Leseapparaten lässt
sich das komplette Erbgut des Menschen in
wenigen Tagen charakterisieren. „Her-
kömmliche molekulargenetische Verfahren
werden dadurch jedoch nicht überflüssig“,
erklärt Katrin Hinderhofer. Jede Methode
habe ihre Grenze, insbesondere bei der
Next-Generation-Sequenzierung seien noch
viele Fragen offen, bevor man diese in der
Routinearbeit einsetzen könne. „Langwei-
lig“, sagt Katrin Hinderhofer, „wird es in der
Humangenetik jedenfalls nicht.“
Lesen im
Buch des Lebens
„Es braucht sehr viel Erfahrung,
um zu entscheiden, ob das, was man sieht,
auch krankheitsrelevant ist.“
Die Sequenzierung ist nur eine von meh-
reren molekulargenetischen Testungen,
um veränderte Erbanlagen unter den
rund 22.000 Genen des Menschen aus-
findig zu machen.