06
Mai
2020
|
11:43
Europe/Amsterdam

„Wir befinden uns gerade in der Phase des Sortierens“

Zusammenfassung

Wo wird aktuell woran geforscht? Und wie können wir den Überblick behalten, um das Rad nicht immer wieder neu zu erfinden? Darüber haben wir mit Prof. Dr. Dr. med. Markus Ries vom Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums Heidelberg, einem der Initiatoren der „COVID-19-Karte der Hoffnung“, gesprochen.

Interview: Marina Urbanietz

Herr Prof. Ries, Sie haben gemeinsam mit einem Geoinformatik-Team die „COVID-19-Karte der Hoffnung“ entwickelt, die aktuelle Forschungsaktivitäten in Bezug auf Covid-19 weltweit abbildet. Wie entstand diese Idee?

Prof. Ries: Neben meiner Tätigkeit als Kinderarzt bin ich auch im Katastrophenschutz aktiv. Die Situation mit Covid-19 entwickelt sich nach den Prinzipien der Katastrophenmedizin: Zuerst scheint alles sehr chaotisch zu sein, doch dann sortieren sich die Dinge. In dieser ersten Phase wurden einige – sehr gute – Karten zur Infektionsausbreitung veröffentlicht. Doch langsam befinden wir uns in der „Phase des Sortierens“ – es passiert gerade sehr viel in den verschiedenen Forschungsbereichen zu Covid-19. Doch die große Frage ist: Wer macht was wo und wie? Wie vermeiden wir, dass das Rad in verschiedenen Teilen der Welt immer wieder neu erfunden wird? Eine transparente Darstellung der weltweiten Forschungsentwicklungen hat aus meiner Sicht bisher gefehlt – so entstand unsere „Karte der Hoffnung“.

 

Auf welchen Daten basiert die Karte und wie oft wird sie aktualisiert?

Prof. Ries: Unsere Karte ist eine medizinisch-geografische Visualisierung der Daten aus der International Clinical Trials Registry Platform (ICTRP), eine Datenbasis der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Kleinere Aktualisierungen führen wir wöchentlich durch, umfangreiche Änderungen werden alle vier Wochen vorgenommen.

 

Wie viele Covid-19-Studien laufen derzeit und aus welchen Forschungsgebieten kommen die meisten Arbeiten?

Prof. Ries: Aktuell haben wir 1514 klinische Studien, die in der oben erwähnten WHO-Datenbasis registriert sind. Grundsätzlich haben wir alle Forschungsaktivitäten in neun Hauptkategorien unterteilt:

  • Diagnostik
  • Hintergründe der Erkrankung
  • Therapeutische Strategien
  • Medikamentenentwicklung
  • Innovative therapeutische Ansätze (z. B. Plasmatherapie, Stammzellentherapie)
  • Impfstoffentwicklung
  • Alternative therapeutische Ansätze (z. B. pflanzliche Medizin, TCM)
  • Auswirkungen von Covid-19 auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Gesundheitssektor
  • Andere Studien, die nicht eindeutig einer der oben genannten Kategorien zugeordnet werden können

Am meisten passiert aktuell in den Bereichen der Medikamentenforschung und -entwicklung sowie bei der Erforschung der Hintergründe von Covid-19 (s. Abb.).

In welchen Forschungsgebieten ist der Bedarf an Studien aus Ihrer Sicht am größten?

Prof. Ries: Es ist schwer, einen der Bereiche über alle anderen zu stellen. Natürlich brauchen wir einen wirksamen und sicheren Impfstoff, deswegen würde ich die Impfstoffentwicklung sehr hoch priorisieren.

Im therapeutischen Bereich finde ich den WHO-Ansatz „Solidarity“ clinical Trial for COVID-19 treatments ausgesprochen interessant. Dabei hat die WHO vier besonders interessante Wirkstoffe oder Wirkstoff-Kombinationen ausgewählt (Remdesivir, Chloroquin und Hydroxychloroquin, Lopinavir und Ritonavirum sowie Lopinavir und Ritonavir in Kombination mit Interferon-beta), um sie in einem klinischen Studienprogramm in mehreren Ländern zu testen. In Deutschland wird die Projektkoordination von dem Deutschen Zentrum für Infektionsforschung (DZIF) und dem Deutschen Zentrum für Lungenforschung (DZL) übernommen.

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Sehr wichtig finde ich auch die Untersuchungen in Bezug auf die Auswirkungen von Covid-19 sowohl auf die physische als auch auf die psychische Gesundheit von Ärztinnen und Ärzten sowie anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im medizinischen Sektor.

 

Welche Länder sind aktuell in der Covid-19-Forschung besonders aktiv?

Prof. Ries: Ich glaube, unsere Karte kann diese Frage am besten beantworten (s. Abb.). Wenn man sich die Verbindung zwischen China und Europa anschaut, könnten wir sogar über eine Art „Seidenstraße der klinischen Forschung“ sprechen. China, Europa und Nordamerika führen aktuell die meisten Studien in Bezug auf Covid-19 durch. Aber auch Australien und Südamerika sind in vielen Forschungskategorien aktiv.

 

Sie sind Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin. Welche Forschungsarbeiten und -ergebnisse im pädiatrischen Bereich in Bezug auf Covid-19 sind besonders interessant?

Prof. Ries: Aktuell werden vor allem zwei interessante Fragestellungen zum Verständnis von Covid-19 bei Kindern diskutiert: Welche Rolle spielen sie bei der Übertragung und warum haben Kinder in der Regel keine schweren Verläufe? Insbesondere die Antwort auf die zweite Frage könnte eventuell auch Hinweise für Therapieansätze bei Erwachsenenliefern. Hierzu ist aktuell eine Studie gestartet worden, an der unsere Klinik federführend beteiligt ist. Eine Studie in Island hatte kürzlich gezeigt, dass Kinder unter zehn Jahren seltener mit Covid-19 infiziert waren als Erwachsene. Frühere Daten aus China hatten dagegen nahegelegt, dass Kinder ähnlich häufig infiziert sind, aber manchmal weniger schwer erkranken als Erwachsene. Die neue Studie soll nun die Situation in Deutschland analysieren.

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Wäre eine solche Forschungskarte auch für andere medizinischen Themen – abseits der Covid-19-Epidemie – denkbar? Ist diesbezüglich bereits etwas geplant?

Prof. Ries: Klar, es wäre grundsätzlich denkbar. Geplant ist allerdings aktuell noch nichts, da es bei solchen Projekten meist eine Frage der Kapazitäten und auch der Finanzierung ist. Aber ich glaube, die Covid-19-Karte stellt eine gute Basis für weitere ähnliche Projekte dar.

 

Über dieses Interview

Das Interview wurde am 27.04.2020 von Marina Urbanietz im Auftrag von der Ärzteplattform coliquio durchgeführt und dem UKHD freundlicherweise von coliquio zur Verfügung gestellt.

Das Interview auf coliquio.de