NEW_LIVES: Genomic… Ethik

Teilprojekt Ethik

Nationales Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg

Ethische Chancen, Risiken, Herausforderungen

Im Zusammenhang mit einem gNBS-Programm (genomisches Neugeborenen-Screening) stellen sich viele ethische Fragen. Diese untersuchen wir im Teilprojekt „Medizinethik“. Wichtige Fragen sind zum Beispiel: Nach welchen Kriterien sollen die Krankheiten ausgewählt werden, auf die getestet wird? Was müssen Eltern oder andere Sorgeberechtigte im Vorfeld wissen, um informierte Entscheidungen für ein Neugeborenes treffen zu können? Wie sollte man mit möglichen Zusatzbefunden umgehen? Was passiert mit den genetischen Daten aus einem gNBS-Programm? Darf man sie für die Forschung nutzen?

Um Antworten auf diese und weitere Fragen zu finden, wägen wir Chancen und Risiken eines gNBS-Programms für die Betroffenen ab. Dabei behalten wir vor allem die Interessen und Rechte der Neugeborenen im Blick. Wir werden ethische Empfehlungen erarbeiten, die bei der Gestaltung eines möglichen gNBS-Programms in Deutschland angewendet werden können. Es ist dabei unser Ziel, dass mögliche Risiken für alle Betroffenen minimiert werden und der gesundheitliche Nutzen für die Neugeborenen und ihre Familien überwiegt.

Rechte des Kindes, Pflichten der Eltern

Das Neugeborenen-Screening ist eine Untersuchung an Personen, die selbst zu jung sind, um die Untersuchung verstehen und ihre Einwilligung geben zu können. In der Regel treffen die Eltern, manchmal auch andere Sorgeberechtigte stellvertretend eine Entscheidung für ihr Kind. Dabei sind die Eltern/Sorgeberechtigten in ihrer Entscheidung aber nicht völlig frei, weil sie eine Fürsorgepflicht gegenüber dem Kind haben. Diese Pflicht besagt, dass sie genau das tun müssen, was für das Wohl ihres Kindes und den Schutz seiner Rechte notwendig ist. Eine zentrale Frage lautet deshalb, worin das Kindeswohl hier eigentlich konkret besteht und welche genetischen Informationen über das Kind die Eltern/Sorgeberechtigten kennen müssen, um ihre Fürsorgepflicht zu erfüllen.

Ein Problem ist, dass man oft nicht so genau wissen kann, was im Einzelfall konkret für das Kindeswohl und die Erfüllung der Fürsorgepflicht notwendig ist. Ob bestimmte Informationen wirklich relevant sind, ist oft unsicher. Deshalb haben Eltern/Sorgeberechtigte in der Regel die Freiheit, nach bestem Wissen und Gewissen selbst zu entscheiden, was für ihr Kind das Beste ist, auch wenn sie sich darin vielleicht manchmal irren. Dennoch sind dieser Entscheidungsfreiheit Grenzen gesetzt, z.B., wenn bestimmte Entscheidungen mit einem unvertretbar hohen Risiko einhergehen würden. Eine weitere Grenze besteht in den Rechten von Neugeborenen und Heranwachsenden, die respektiert werden müssen, wie z.B. Rechte auf eine offene Zukunft, auf Privatsphäre oder darauf, sich gegen genetische Tests entscheiden zu dürfen. Diese Rechte müssen auch bei der Planung eines gNBS-Programms berücksichtigt werden.

Potenzieller Nutzen für Familie und Gesellschaft

Ein gNBS-Programm bietet in erster Linie für die Neugeborenen, möglicherweise aber auch für ihre Familien eine große Chance, Erkrankungen frühzeitig festzustellen und durch Behandlung oder Vorsorge den erwartbaren Krankheitsverlauf deutlich zu verbessern. Dadurch nützt das Screening zunächst ganz unmittelbar dem Kind. Genetische Informationen werden aber auch vererbt. Daher könnten die Testergebnisse auch für die Eltern und andere Verwandte einen gesundheitlichen oder persönlichen Nutzen haben.

Zusätzlich hätte ein gNBS-Programm aber auch einen gesellschaftlichen Nutzen, weil es die Gesundheit von Neugeborenen generell verbessern und so zur Entlastung der Gesundheitsbudgets beitragen könnte. Denn eventuell lassen sich die Behandlungskosten für die festgestellten Krankheiten insgesamt senken, wenn man schon frühzeitig Vorsorge- und Therapiemaßnahmen ergreift. Die genomischen Daten der Neugeborenen könnten zudem, mit Einwilligung der Eltern und später auch des Kindes selbst, eine wichtige Grundlage für die medizinische Forschung werden. Damit der Nutzen klar überwiegt, muss bei der Gestaltung des Programms aber eine Reihe von Risiken vermieden werden.

Risiken vermeiden durch sinnvolle Programm-Gestaltung

Ein gNBS-Programm bringt auch verschiedene Risiken mit sich, die minimiert werden sollten. Dazu gehört z.B., dass manche Testergebnisse eine unklare Bedeutung haben könnten. Deshalb muss bei der Auswahl von Zielkrankheiten darauf geachtet werden, dass die Testergebnisse eine hohe Sicherheit und Vorhersagekraft haben. Denn unsichere Ergebnisse könnten zu vielen unnötigen Folgeuntersuchungen für das Neugeborene führen, die für die Eltern natürlich immer auch mit Ängsten verbunden sind. Gesellschaftlich wiederum ist die Sicherheit und Vorhersagekraft der Testergebnisse auch deshalb wichtig, weil unsichere Ergebnisse zu unnötigen Folgeuntersuchungen und hohen Zusatzkosten führen könnten, was angesichts knapper Kassen vermieden werden sollte. Aber auch ein sicheres positives Testergebnis verursacht häufig Ängste, die durch gute Aufklärung, Beratung und klare Strukturen, wie es danach weitergeht, gemildert werden könnten.

Ein weiteres Risiko besteht in negativen Auswirkungen auf andere Familienmitglieder. Weil genetische Informationen in der Familie vererbt werden, könnten Verwandte des Neugeborenen von ihren eigenen Krankheitsrisiken erfahren, obwohl sie eigentlich nicht zugestimmt hatten, diese Informationen zu bekommen. Auch das kann Ängste hervorrufen. Deshalb sollte bei der Beratung auch über die Kommunikation in der Familie vor und nach dem Test gesprochen werden. Darüber hinaus sollte man auch die Herausforderungen des Datenschutzes und das Risiko einer Diskriminierung auf Grund von genetischen Daten im Blick behalten.

Quellen der Ungewissheit minimieren

Generell gilt: Wir alle leben mit Unsicherheit. Durch ein gNBS-Programm kann diese verringert werden, wenn ausgeschlossen werden kann, dass ein Kind genetische Auffälligkeiten aufweist, oder wenn Erkrankungen frühzeitig erkannt werden. Denn es gibt viele genetische Varianten, für die es wissenschaftlich gut belegt ist, dass sie mit teils schwerwiegenden genetischen Erkrankungen verbunden sind. Diese im Rahmen eines gNBS-Programms zu erkennen, ist wichtig, um der Entstehung von Krankheiten vorzubeugen. Doch es gibt eine weitaus größere Anzahl von genetischen Varianten mit unsicherer Bedeutung. Auch solche Informationen können im Rahmen eines gNBS-Programms theoretisch identifiziert werden. Eine große Herausforderung für gNBS-Programme stellt die Frage dar, wie mit dieser Unsicherheit umgegangen werden soll.

Ein Grund, der aus ethischer Sicht dafür spricht, auch Informationen zu weniger sicheren Erkrankungsrisiken mitzuteilen, ist der mögliche gesundheitliche oder persönliche Nutzen. Dagegen spricht jedoch z.B. das Risiko, dass die Familie emotional durch die unsicheren Ergebnisse belastet wird und dass das Kind, vor allem bei genetischen Informationen mit unklarer medizinischer Bedeutung, vielleicht ein Recht darauf hat, dass diese nicht eingeholt werden.

Da Ergebnisse unter Umständen unsicher sind und zu emotionaler Belastung führen können, birgt die Einführung von gNBS-Programmen zudem das Risiko, dass das etablierte Neugeborenen-Screening-Programm an gesellschaftlicher Akzeptanz einbüßt. Das sollte vermieden werden, da das Neugeboren-Screening eine der besten Möglichkeiten ist, um Erkrankungen frühzeitig zu behandeln und Leben zu retten.

Überdiagnose und Überbehandlung vermeiden

Unter Medikalisierung versteht man, dass ganz gewöhnliche Aspekte des Lebens plötzlich zu medizinischen Problemen uminterpretiert werden, die dann scheinbar eine Behandlung erfordern, ohne dass es dafür tatsächlich einen guten Grund gäbe. Medikalisierung ist dabei oft Ausdruck einer Tendenz, das Leben einseitig aus gesundheitlicher oder medizinischer Perspektive zu betrachten, so dass andere wichtige Aspekte leicht übersehen werden. Das könnte z.B. dazu führen, dass das medizinisch Machbare und sein möglicher Nutzen überschätzt werden, während mögliche Kosten und Risiken oder die Selbstbestimmung der behandelten Person nicht ausreichend stark gewichtet werden. Bei der Planung eines gNBS-Programms muss daher z.B. darauf geachtet werden, dass man nicht in Form genetischer Varianten ‚Krankheiten‘ diagnostiziert, die vielleicht niemals Symptome ausbilden und daher keine gesundheitliche Belastung darstellen (Überdiagnose). Denn dann könnte es passieren, dass Patient:innen Behandlungen oder Vorsorgemaßnahmen unterworfen werden, die nicht nur unnötig, sondern auch emotional, finanziell oder gesundheitlich kostspielig sind (Überbehandlung).

Überdiagnose und Überbehandlung sind Folgen der Medikalisierung und besonders dann Risiko eines gNBS-Programms, wenn die Sicherheit und Vorhersagekraft der Testergebnisse nicht ausreichend hoch ist. Deshalb sollte genau überlegt werden, welche Erkrankungsrisiken das Programm eigentlich identifizieren soll. Zudem ist es wichtig, Familien und die Gesellschaft über die oft unsichere Bedeutung von genetischen Informationen und das Risiko der Medikalisierung aufzuklären. Dazu gehört auch, darauf hinzuweisen, dass die Vorstellung, der Mensch sei ausschließlich oder doch überwiegend durch seine Gene vorherbestimmt (sogenannter genetischer Essentialismus), wissenschaftlich so nicht haltbar ist.

Team

Prof. Dr. Dr. Eva Winkler

Prof. Dr. Dr. Eva Winkler ist Heisenberg-Professorin und Leiterin der Sektion für Translationale Medizinethik am Uniklinikum Heidelberg und Geschäftsführende Direktorin am NCT Heidelberg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Forschungsethik, klinische Ethik und ethische Fragen im Gesundheitswesen. Professor Winkler ist Fachärztin für Hämatologie/Onkologie und arbeitet als Oberärztin in der Abteilung Medizinische Onkologie (UKHD). Sie wurde auf dem Gebiet der Krebsforschung an der Universität Heidelberg und im Fach Medizin- und Gesundheitsethik an der Universität Basel promoviert.

Karla Alex, ist Akademische Mitarbeiterin in der Sektion Translationale Medizinethik (Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Dr. Eva Winkler am NCT Heidelberg) am Universitätsklinikum Heidelberg. Sie studierte Philosophie/Ethik und Germanistik (Examensarbeit zu „Bedingte Bedingungslosigkeit: Ethische Aspekte des Embryonenschutzes in vitro“; betreut von Prof. Dr. Peter McLaughlin, Philosophisches Seminar, Universität Heidelberg, Note 1,0). In der Sektion für Translationale Medizinethik war sie beteiligt an dem Forschungsprojekt COMPASS_ELSI (“Comparative Assessment of Genome and Epigenome Editing in Medicine: Ethical, Legal and Social Implications”; Deutsche Forschungsgemeinschaft – Projektnr. 409799774, 2019–23). In das Projekt NEW_LIVES ("Genomic Newborn Screening Programs - Legal Implications, Value, Ethics and Society") ist sie seit Beginn der Projektkonzeption und Antragstellung intensiv eingebunden (Koordination der Antragstellung, sowie übergangsmäßig Kooridnation der Projektgruppe). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Angewandten Ethik insbesondere im Bereich der biomedizinischen Ethik und Forschungsethik. 

Lars Neth ist Akademischer Mitarbeiter in der Sektion Translationale Medizinethik (Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Dr. Eva Winkler am NCT Heidelberg) am Universitätsklinikum Heidelberg. Er studierte Philosophie und Literaturwissenschaft in Glasgow und schloss 2023 seinen M.A. in Philosophie an der Universität Tübingen ab.

Seine Interessen und Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der praktischen Philosophie und Ethik. Bis 2024 arbeitete er im Rahmen der Medizininformatik-Initiative (MII) als Verwaltungsassistent und Koordinator am Medizinischen Datenintegrationszentrum (meDIC) des Universitätsklinikums Tübingen. Seit April 2024 ist er wissenschaftlicher Koordinator des Verbundprojekts NEW_LIVES und Mitarbeiter im TP Ethik.


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