Newsroom Events Medizin am Abend 2021 76. "Traumatisierte…

"Traumatisierte Eltern bei der Erziehung unterstützen"

Wer in seiner Kindheit Gewalt erlebt hat, kann die eigenen Kinder durchaus liebevoll großziehen. Die Heidelberger Psychiatrie-Professorin Sabine C. Herpertz, die in der Klinik für Allgemeine Psychiatrie in der Voßstraße in Bergheim tätig ist, erklärt im Rahmen der Interviewreihe „Medizin am Abend“, wie sich Gewalterfahrung auf die Intuition auswirkt, was vor der Weitergabe eigener Traumata schützt – und warum eine unbelastete Kindheit fürs Elternsein auch nicht optimal ist.

Muss man selbst eine glückliche Kindheit gehabt haben, um sein Kind gut großzuziehen, Frau Professor Herpertz?

Nein. Wir haben gesehen, dass auch schwer traumatisierte Mütter warmherzig sind, ihren Kindern Zuwendung zukommen lassen und für ihren Nachwuchs emotional verfügbar sind. Aber die Kindererziehung ist für sie anstrengender, weil sich die Erziehung für sie weniger auf der intuitiven und stärker auf der kognitiven Ebene vollzieht. Sie wollen nicht, dass ihr eigenes Schicksal auch zu dem ihrer Kinder wird. Darüber denken sie nach; dieses Nachdenken ist für sie selbst mit Anstrengung und oft auch mit Stress verbunden.

Sie beschäftigen sich auch mit den Fällen, in denen es nicht gelingt, die Kinder vor den eigenen Verletzungen zu schützen. Wann ist das der Fall?

Wenn die Erlebnisse eine psychische Krankheit wie Depressionen, Borderline-Persönlichkeitsstörungen oder Angsterkrankungen nach sich ziehen, ist das ein bedeutender Risikofaktor. Diese Krankheiten erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass Eltern eigene traumatische Erfahrungen an die Kinder weitergeben.

Bitte erklären Sie das doch mal: Wie kann man sich das vorstellen, dass ein Trauma weitergegeben wird?

Traumatische Erfahrungen wie sexueller Missbrauch oder Gewalt führen dazu, dass man die Umwelt schneller als bedrohlich erlebt. Dabei werden alte Gefühle wiederbelebt, die aus anderen Kontexten stammen. Das kann Eltern etwa zu der Annahme verleiten, dass ihr Kind sie hasst. Sie versetzen sich schlechter in ihre Kinder, sind ungeduldiger und weniger aufmerksam, und sie reagieren schneller gereizt oder auch aggressiv. Das kann so weit gehen, dass sie selbst gewalttätig werden.

Viele Eltern geraten bei der Erziehung an ihre Grenzen. Was macht Sie sicher, dass die Überforderung von Eltern in solchen Fällen aus eigenen Erfahrungen resultiert und nicht einem stressigen Alltag geschuldet ist?

Das haben wir untersucht – unter anderem mit Verfahren der Bildgebung. In einer großen Studie haben wir Mütter in den Scanner gelegt und ihnen sowohl schöne als auch konflikthafte Situationen mit ihrem Kind vorlesen lassen; diese sollten sie sich lebhaft vorstellen. Die Gehirnaktivität zeigte, dass diejenigen, die in ihrer Kindheit keine Gewalterfahrungen gemacht hatten, mit ihrem Emotionsnetzwerk stärker auf die schönen Situationen reagierten, bei ihnen steht die belohnende Seite in der Beziehung zu ihrem Kind im Fokus. Diejenigen, die traumatische Erfahrungen gemacht hatten, reagieren hingegen stark auf konflikthafte Situationen, die sie sich mit ihrem Kind vorstellen sollten. Sie nehmen diese Vorkommnisse also besonders stark wahr. Das kann man durch Training kompensieren, auch wenn das oft nicht von heute auf morgen gelingt.

Sie versuchen, Eltern mit traumatischen Erlebnissen zu helfen. Wie machen Sie das?

Allen Eltern, die ambulant oder stationär aufgrund einer Erkrankung bei uns in Behandlung sind, bieten wir in Kooperation mit dem Institut für Psychosoziale Prävention ein fünfwöchiges Training mit zwölf Interventionen an. Das soll ihnen helfen, sich nicht am Verhalten des Kindes aufzureiben. Wenn ein dreijähriges Kind wütend ist und schreit, ist es katastrophal, dann auch noch zu denken: Das Kind schreit, weil ich eine so schlimme Mutter bin. Wichtig ist zu verstehen, was dem Verhalten des Kindes zugrunde liegt. Das hilft auch dabei, eigenen Stress abzubauen. Die Eltern berichten uns, dass ihnen dieses Programm eine Hilfe ist.

Und wenn Gewalterfahrungen weitergegeben werden: Über wie viele Generationen kann das gehen?

Das haben wir selbst nicht untersucht. Aber Kollegen konnten am Beispiel von Insassen von Konzentrationslagern zeigen, dass deren Erfahrungen epigenetisch an die nächste Generation übertragen werden; eine solche Weitergabe von Erfahrungen könnte auch noch die übernächste Generation betreffen; hierzu sind Untersuchungen auf dem Weg. Die Erlebnisse der Eltern wirken sich noch bei den Kindern auf diejenigen Gene aus, die Stress regulieren. Das gilt vermutlich auch für andere Erfahrungen von Gewalt und Missbrauch, wie sie in der Erziehung vorkommen können.

Vorhin haben Sie Krankheiten angesprochen, die das Risiko für die Weitergabe der Traumata erhöhen können. Sind diese Krankheiten heilbar?

Depressionen und Angststörungen kann man heilen, und auch 60 Prozent der Borderline-Patienten kann man mit Psychotherapien gut helfen. Inwieweit es im Einzelfall gelingt, Resilienz aufzubauen, hängt dabei auch immer von der Schwere der Traumata sowie von der jeweiligen Persönlichkeit ab. Eine Kindheit ohne Belastungen ist für Eltern aber übrigens auch nicht optimal. Denn Selbstwirksamkeit und den Umgang mit Stress muss man lernen. Das gilt für jeden.

Das Zentrum für Psychosoziale Medizin beteiligt sich vom 13. bis 17. Oktober mit zahlreichen Veranstaltungen zum Thema Familie an der Woche der Seelischen Gesundheit.

Zum Veranstaltungsprogramm

 

Das Interview führte Julia Lauer, RNZ

Veranstaltungshinweis

Das Zentrum für Psychosoziale Medizin am Universitätsklinikum Heidelberg beteiligt sich vom 13. bis 17. Oktober mit zahlreichen Veranstaltungen zum Thema Familie an der Woche der Seelischen Gesundheit.

  • Zum Veranstaltungsprogramm

Prof. Dr. Sabine C. Herpertz
Ärztliche Direktorin der Klinik für Allgemeine Psychiatrie am Universitätsklinikum Heidelberg