Newsroom Events Medizin am Abend 2022 84. KIG BaWü

Das Beste aus beiden Welten vereinigt

Yvonne Samstag beschäftigt sich als Wissenschaftlerin am Heidelberger Universitätsklinikum damit, was Patienten neben der Schulmedizin noch helfen kann. Im Rahmen der Interviewreihe „Medizin am Abend“ spricht die Ärztin und Professorin für Immunologie darüber, welche Ansätze vielversprechend erscheinen – und ob Brokkolisprossen wirklich so gesund sind, wie es immer heißt.

Frau Prof. Samstag, Sie beschäftigen sich mit alternativen Therapiemethoden und untersuchen als Wissenschaftlerin, was wirklich nützt. In welchem Bereich hoffen Sie, fündig zu werden?

Insbesondere bei chronischen Entzündungen, chronischem Stress, Infektionen und Krebs. Hier hat die Komplementärmedizin das Potenzial, die Schulmedizin zu bereichern. Ich spreche nicht gerne von Alternativmedizin. Das klingt nach einem Ansatz, der der Schulmedizin entgegensteht. Ziel ist, dass es am Ende eine Medizin gibt, die alle Ansätze integriert, die erwiesenermaßen helfen.

Yoga, Naturheilkunde, Chiropraktik – womit beschäftigen Sie sich?

Wir suchen nach Therapieoptionen, die die körpereigenen Kräfte nutzen und stärken können. Vielversprechend erscheinen uns vor allem pflanzliche Wirkstoffe, Ernährung und Akupunktur.

2016 haben Sie das Akademische Zentrum für Komplementäre und Integrative Medizin (AZKIM) gegründet. Wissenschaftler der vier Universitätskliniken des Landes forschen im Verbund. Was zeichnet das Zentrum aus?

Es handelt sich um das erste Konsortium in Deutschland, das mit wissenschaftlichen Methoden die Schul- und die Komplementärmedizin in Verbindung bringt. Dazu vereinen wir Grundlagenforschung, klinische Forschung und Versorgungsforschung und arbeiten interdisziplinär. In dem Verbund sind Immunologen, Pharmakologen, Allgemeinmediziner und Internisten vertreten.

Auf dem Gebiet der Ernährung haben Sie sich mit Brokkoli beschäftigt. Ist das wirklich ein Superfood?

Wir haben Sulforaphan untersucht, eine Substanz, die unter anderem nach dem Verzehr von Brokkolisprossen im Darm entsteht. Es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass diese Substanz die Entstehung von Krebszellen verhindern kann. Unsere Untersuchungen haben aber gezeigt, dass sie auch die Immunabwehr hemmt. Es handelt sich also um ein zweischneidiges Schwert: So lange man keinen Krebs hat, kann es gut sein, reichlich Brokkolisprossen zu essen. Wenn man aber Krebs hat – was lange Zeit unbemerkt bleiben kann –, ist der Effekt möglicherweise kontraproduktiv, weil die Immunzellen weniger stark gegen die Krebszellen vorgehen. Superfoods, die für alle Menschen gleichermaßen geeignet sind, gibt es meines Erachtens nicht.

Es gibt dann wahrscheinlich auch keine Diät, die Sie allgemein empfehlen?

Nein, hier sind die Parameter individuell verschieden. So berichten Patienten mit Arthritis beispielsweise von Verbesserungen bei veganer Ernährung. Kollegen in Freiburg haben das bei Probanden untersucht, die zunächst normale Mischkost gegessen haben und dann auf eine vegane Diät umgestiegen sind. Die Ergebnisse legen nahe, dass von der veganen Diät über Veränderungen im Eiweißstoffwechsel eine anti-entzündliche Wirkung ausgeht. Der Eindruck ist also: Wenn die Entzündungsparameter im Körper hoch sind, dann lohnt sich vegane Ernährung.

Wie ernähren Sie sich?

Ich esse gerne vegetarische Gerichte, mag Obst und Gemüse unterschiedlicher Sorten. Fleisch esse ich hin und wieder. Dass ein hoher Fleischkonsum nicht empfehlenswert ist, gilt allgemein. Auf der anderen Seite konnten wir bei Fleischessern, die auf vegane Ernährung umgestiegen sind, schon nach vier Wochen eine deutliche Abnahme der Vitamin-B12-Spiegel im Blut nachweisen. Die B-Vitamine sollte man also gerade als Veganer kontrollieren und gegebenenfalls über Nahrungsergänzungsmittel zu sich nehmen.

Sie haben sich auch mit Akupunktur beschäftigt. Was haben Sie festgestellt?

In einer Pilotstudie, die wir gemeinsam mit der Heidelberger Psychosomatik und Tübinger AZKIM-Forschern gemacht haben, haben wir Patienten mit chronischem Stress vor und nach Akupunktur Blut abgenommen und mit einer Kontrollgruppe verglichen. Im Blut kann man die Effekte auf das Immunsystem sehen. Wir haben Hinweise, dass Akupunktur bei chronischem Stress und bei Entzündungen im Körper sinnvoll sein kann.

Ist auch die Homöopathie ein Gegenstand für Sie?

Das, was wir experimentell untersuchen, muss auf molekularer Ebene nachweisbar sein. Bei der Homöopathie sind die Substanzen in der Regel so stark verdünnt, dass das nicht der Fall ist. Deshalb beschäftigen wir uns nicht damit.

Kommen sich Schul- und Komplementärmedizin denn näher?

Vorbehalte halten sich auf beiden Seiten zäh. Niedergelassene Mediziner sind zwar zunehmend bereit, Komplementärmedizin anzuwenden, aber oft fehlt die Evidenz, also die wissenschaftliche Untermauerung. Die Mediziner an Universitätskliniken möchten sich in der Regel auf evidenzbasierte Behandlungen beschränken. Das kann aber kaum gelingen, weil 50 bis 70 Prozent ihrer Patienten zusätzlich komplementärmedizinische Methoden nutzen und das oft nicht sagen. Dieser Zustand ist unbefriedigend. Deshalb besteht Handlungsbedarf.

Eigentlich liegt es nahe, bewährte Behandlungsmethoden wissenschaftlich zu untersuchen. Warum ist das nicht schon früher geschehen – hat es damit zu tun, dass es keine Patente auf Pflanzen und alte Methoden gibt?

Das ist einer der Gründe, warum es schwierig ist, Geldgeber zu finden. Deshalb sind wir dem Land auch sehr dankbar, dass es unsere Studien im Rahmen des „Forums Gesundheitsstandort Baden-Württemberg“ unterstützt. Aber auch in der Forschung haben wir immense Fortschritte gemacht. Immunreaktionen auf molekularer Ebene etwa können wir erst seit einigen Jahren in Blut und Gewebe nachweisen.

Haben Sie auch Hoffnung, Mittel für schwere Krankheiten zu finden?

Für Krankheiten wie Krebs sollten wir keine Heilung von der Komplementärmedizin erwarten. Aber sie kann zusätzlich helfen. Behandlungen mit Mistelpräparaten können beispielsweise die Nebenwirkungen von Chemotherapien lindern und werden auch schon eingesetzt. Bei chronisch entzündlichen Erkrankungen wie Arteriosklerose, Gelenkentzündungen und Diabetes mellitus mit langfristig schweren Folgen für die Gesundheit habe ich große Hoffnung, dass wir gemeinsam Möglichkeiten finden, diese Zivilisationserkrankungen künftig besser in Schach zu halten.

Das Interview führte Julia Lauer, RNZ

Referentin

Prof. Dr. Yvonne Samstag
Universitätsprofessorin für Zelluläre Immunologie
Leiterin der Sektion Molekulare Immunologie am Institut für Immunologie