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Moderne Narkose

Narkosen haben viele medizinische Therapien überhaupt erst erträglich gemacht. Markus Weigand, Professor für Anästhesiologe am Universitätsklinikum Heidelberg, spricht im Rahmen der Interviewserie „Medizin am Abend“ über die genaue Dosierung der Medikamente, Patientensicherheit – und die angemessene Sprache im OP.

Herr Professor Weigand, Sie leiten die Klinik für Anästhesiologie. Wenn ein Patient operiert und die Wunde zugenäht wird: Wie viele Minuten vergehen noch, bis er aufwacht?

Das hängt von der Schwere des Eingriffs ab. Idealerweise vergehen ein bis zwei Minuten nach der letzten Hautnaht, manchmal sind es aber auch zehn bis 15 Minuten.

Eine Vollnarkose enthält immer Schmerzmittel, Schlafmittel und Muskelrelaxantien. Wie kann man sie so punktgenau dosieren?

Bei vielen OPs lässt die Schmerzintensität gegen Ende nach. Ein Eingriff im Bauchraum selbst ist beispielsweise schmerzhafter als das Zunähen der Haut hinterher, sodass man die Schmerzmittel langsam reduzieren kann. Für Muskelrelaxantien, die dafür sorgen, dass sich der Patient nicht bewegt, gibt es Gegenmittel, die die Wirkung aufheben. Wir messen unentwegt die Gehirnströme, sodass wir die Dosis der Schlafmittel gut steuern können.

In Deutschland gelten Narkosen als sehr sicher. Schwere Zwischenfälle treten bei einem von 140.000 Patienten auf. Können Sie sich darauf ausruhen?

Unser Ziel ist, die Zahl dieser Zwischenfälle auf null zu bringen. Zur Erhöhung der Patientensicherheit unternehmen wir vieles: Wir veranstalten immer wieder Simulationswochen, in denen wir in interprofessionellen Teams bestimmte Notfallsituationen wie etwa Reanimationen oder Atemwegszwischenfälle trainieren. Vor jeder Narkose findet ein Teambriefing statt, und wir nehmen einen Gerätekurzcheck vor. Das sind nur einige Beispiele.

Bei alten Menschen und Kindern ist die Narkose weniger sicher als in der Gesamtbevölkerung. Woran liegt das?

Das Alter selbst ist ein Risiko, außerdem Krankheiten wie Herzinsuffizienz, Diabetes oder auch eine eingeschränkte Nierenfunktion. Schwere Zwischenfälle im Zusammenhang mit einer Narkose treten bei einem von etwa 30.000 Patienten auf.

Und bei Kindern?

Bei Säuglingen verbleibt nach dem Ausatmen ein geringeres Gasvolumen in der Lunge. Das bedeutet, dass wir weniger Zeit haben, um die Atemwege zu sichern. Zudem sind die Atemwege von Säuglingen empfindlicher, es kommt eher zu einer Verengung von Stimmritzen und Bronchien. Wie sicher eine Narkose für Kleinkinder ist, hängt auch von der Erfahrung des Anästhesisten ab. Die Facharzt-Ausbildung verlangt 1800 Narkosen bei Erwachsenen, aber nur 50 bei Kindern unter fünf Jahren. Daher ist es bei planbaren Eingriffen ratsam, ein spezialisiertes Zentrum aufzusuchen, etwa Unikliniken oder Kinderhospitäler, die hier viel Erfahrung haben.

Einer Ihrer Kollegen an der Uni Regensburg hat herausgefunden, dass es sich später auf das Schmerzempfinden auswirkt, was ein Patient während einer Operation hört, denn das Unterbewusstsein speichert auch während einer Narkose vieles ab. Finden solche Erkenntnisse bei Ihnen schon Eingang in die Behandlung?

Die Autoren haben Patienten während der Narkose beruhigende Sätze über Kopfhörer vorgespielt. Diese Kopfhörer haben wir auch schon besorgt, und wir wollen die Wirksamkeit dieser Suggestion gemeinsam mit der Medizinischen Psychologie auswerten. Bei regionalen Betäubungsverfahren wollen wir auch Virtual Reality-Brillen einsetzen, aber zum Standard gehört das noch nicht.

Wenn man um die Bedeutung des Unterbewusstseins während der Narkose weiß: Achten Sie auf die Wortwahl im OP?

So etwas wie Witze im OP gibt es bei uns nicht. Grundsätzlich gebrauchen wir professionelle und wertschätzende Sprache. Dafür haben wir ein Bewusstsein und wir sind achtsam. Bei Notfallnarkosen kann es jedoch beispielsweise vorkommen, dass jemand ruft: „Ich brauche schnell Blut!“ Das lässt sich nicht vermeiden. Was sich aber übrigens auch auf den postoperativen Verlauf auswirkt, ist die gemeinsame Erfahrung von Anästhesist und Chirurg.

Inwiefern?

Eine kanadische Studie kam auf der Basis von etwa 8000 schweren Operationen zu dem Ergebnis, dass ab einer bestimmten Zahl an gemeinsamen Operationen jeder weitere Eingriff, den das Team zusammen durchgeführt hat, die Zahl schwerer Erkrankungen der operierten Patienten um fünf Prozent sinkt. Der Chirurg kann sich besser konzentrieren , wenn er weiß, dass er sich hundertprozentig auf den Anästhesisten verlassen kann. In der Folge treten etwa Infektionen wie Lungenentzündungen seltener auf. Die Studie bestätigt gewissermaßen unsere Vorgehensweise, denn auch wir setzen auf erprobte Teams.

Zu den Folgen von Narkosen gehören gerade bei älteren Patienten auch Gedächtnisstörungen. Mitunter halten sie monatelang an. Warum?

Dieses Delir ist wohl kein reiner Narkose-Effekt. Ursächlich scheint eher die Kombination aus Krankenhausaufenthalt, Setting, Eingriff, Narkose und Reha, wie zwei Studien aus dem vergangenen Jahr zeigen. Das Delir tritt beispielsweise bei Hüft-Operationen mit Vollnarkose genauso häufig auf wie bei Hüft-OPs mit Regionalanästhesie.

In welchen Fällen hat man denn die Wahl zwischen Vollnarkose und Regionalanästhesie?

Bei Eingriffen oberhalb des Bauchnabels spricht vieles für die Vollnarkose oder für eine Kombination mit Periduralkatheter, wobei die Betäubungsmittel und Lokalanästhetika in den sogenannten Periduralraum nahe dem Rückenmark eingebracht werden. Denn bei einer regionalen Betäubung im Brustbereich wäre die Gefahr zu groß, dass auch die Atemmuskulatur gelähmt wird. Unterhalb des Bauchnabels, insbesondere bei Eingriffen an Hüfte und Füßen, besteht diese Gefahr nicht, sodass man in der Regel die Wahl hat.

Auch in der Anästhesie gilt die personalisierte Medizin als Trend. Dabei sind Fragen nach dem Körpergewicht oder Betäubungsmittelkonsum doch Standard. Was meint der Begriff?

Das Spektrum, mit dem man auf Patienten eingehen kann, ist noch sehr viel breiter. Bei Lungenleiden ist etwa eine kombinierte Narkose aus Periduralkatheter und Vollnarkose ratsam, bei schwerer Herzinsuffizienz leiten wir die Narkose eher mit Ketamin als mit Propofol ein. Insbesondere bei mehreren Vorerkrankungen ist eine Narkose äußerst individuell.

Noch eine letzte Frage. Manche Narkosegase setzen viel mehr CO2 frei als andere. Wie weit sind Sie am Uniklinikum mit der Umstellung?

Wir verzichten auf Desfloran und Lachgas, die fürs Klima besonders schädlich sind. Eine Berechnung unserer Apotheke ergab 2022, dass wir den CO2-Ausstoß damit um 94 Prozent gesenkt haben. Filter setzen wir noch nicht ein. Hier gibt es noch keine Studie, die beweist, dass mit Blick aufs Klima die ökologischen Kosten ihres Einsatzes den Nutzen überwiegen.

Das Interview führte Julia Lauer, RNZ

Referent

Professor Dr. Markus Weigand
Ärztlicher Direktor der Klinik für Anästhesiologie am Universitätsklinikum Heidelberg