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Newsroom Events Medizin am Abend 2021 77. „Selten“ aber mit…

„Selten“ aber mit großer Bedeutung: Diagnostik und Therapiemöglichkeiten von Seltenen Erkrankungen

Es begann vor mehr als 50 Jahren mit einer Stoffwechselerkrankung – heute werden Säuglinge im Neugeborenen-Screening auf zahlreiche Krankheiten untersucht. Georg Hoffmann, Professor für Kinderheilkunde am Universitätsklinikum, erklärt im Rahmen der Interviewreihe „Medizin am Abend“, wie vielen Kindern man so helfen kann, für welche Krankheiten es neue Behandlungen gibt und wie vielversprechend die Gentherapie ist.

Beim Neugeborenen-Screening werden Säuglinge auf seltene Krankheiten untersucht. Etwa jedem 1000. Kind kann man dank einer frühen Diagnostik helfen, sodass Behinderungen und Todesfälle vermieden werden. Ist das viel, Herr Professor Hoffmann?

In Deutschland finden jährlich 700 000 Geburten statt. Etwa 700 Kindern können wir mit dem Neugeborenen-Screening helfen. Aber es gibt viele weitere Krankheiten, die noch nicht im Screening sind, weil Therapien fehlen. Insgesamt sind es drei bis fünf Prozent der Menschen, die an seltenen Erkrankungen leiden.

Es sind also nur Krankheiten im Screening erfasst, für die es Therapien gibt?

Es sind 19 Krankheiten, auf die deutschlandweit praktisch jeder Säugling im Rahmen dieses Screenings untersucht wird. So lässt sich großer Schaden für das Kind vermeiden. Für die Untersuchung werden lediglich ein paar Blutstropfen von Ferse oder Ohrläppchen genommen und untersucht. Wir sind das Labor, das für Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und das Saarland zuständig ist. Wichtig ist, dass die Untersuchung 36 bis 72 Stunden nach der Geburt erfolgt: Manchmal zählt jeder Tag.

Am 1. Oktober wurde die Spinale Muskelatrophie in das Screening aufgenommen. Bis vor Kurzem lief diese Krankheit tödlich ab. Wie ist das jetzt?

Jedes 7000. Kind kommt mit einer Spinalen Muskelatrophie auf die Welt. War die Geburt einmal überstanden, war dies bisher die häufigste Todesursache von Kindern im Kleinkindalter. Bei dieser Krankheit bauen sich die Muskeln ab, auch die Lungenmuskulatur, und die Kinder sind erstickt. Es ist unglaublich, dass jetzt eine Therapie ermöglicht, dass sich Kinder motorisch normal entwickeln können.

Wie funktioniert die Behandlung?

Die Spinale Muskelatrophie ist eine genetische Erkrankung. Die Eltern sind jeweils gesund, aber Anlageträger. Wenn sie beide eine defekte Genkopie beisteuern, resultiert dies in der Erkrankung ihres Kindes. Es gibt bereits seit einigen Jahren ein Medikament, das regelmäßig in den Hirnwasserraum verabreicht wird und ein Protein vermehrt, von dem es nicht genug gibt. Das stoppt den Muskelabbau. Und es gibt seit etwa einem Jahr eine Gentherapie, die über eine einmalige Spritze in die Blutbahn verabreicht wird. Hier wird das Gen in den betroffenen Zellen repariert. Das ist die Behandlung, die wir bei Neugeborenen mit dieser Erkrankung meist empfehlen.

Die Pilotphase für die Gentherapie fand unter anderem in Heidelberg statt. Wie haben Sie das erlebt?

Die Gentherapie wurde in den USA entwickelt, wo zunächst 12 Kinder erfolgreich behandelt wurden. Durch besondere Umstände wurde in Heidelberg bereits 2019 das erste Kind mit der Gentherapie behandelt, bevor sie ein Jahr später in Europa zugelassen wurde. Seit Juli haben wir fünf Kindern das Präparat direkt nach der Geburt verbreichen können. Alle Kinder entwickeln sich sehr gut, auch Nebenwirkungen traten bisher nicht auf. Kürzlich habe ich ein 18 Monate altes Mädchen gesehen, das läuft. Das ist sehr bewegend: Ohne Behandlung würde es wahrscheinlich schon sterben.

Wirkt die Therapie denn ein Leben lang?

Noch lässt sich das nicht mit Gewissheit sagen. Die Kinder bleiben in ärztlicher Kontrolle, um die Muskulatur regelmäßig zu prüfen. Wichtig ist eine frühe Behandlung. In den Fällen, in denen die Krankheit erst spät entdeckt wurde, konnten die neuen Therapien nicht immer ausreichend helfen. Die Kinder behielten schwere Muskelschäden und manche sind sogar trotz Therapie gestorben.

Auch die Sichelzellanämie wurde jetzt neu in das Screening aufgenommen. Was ist das für eine Krankheit?

Das ist eine Erbkrankheit, bei der das Blut verklumpt und die dadurch bei jedem Dritten mittelfristig zu schweren Organschäden oder sogar zu einem frühen Tod führt. Nach früher Diagnose gibt man heute täglich Antibiotikum. So kann das Kind ganz normal in den Kindergarten und später in die Schule gehen, schwere Folgen bleiben aus. Es bleibt aber chronisch krank.

Gibt es hier keine Gentherapie wie bei der Spinalen Muskelatrophie?

Von den Krankheiten im Screening ist die Spinale Muskelatrophie bislang die einzige, für die es eine Gentherapie gibt. Bei Erbkrankheiten helfen jedoch auch andere Therapien. Seit das Screening vor über 50 Jahren ins Leben gerufen wurde, werden Neugeborene auf die Phenylketonurie untersucht. Das ist eine Stoffwechselerkrankung, die bei verspäteter Behandlung zu schwersten geistigen Behinderungen führt. Mit einer früh begonnenen Diät lässt sich das vermeiden. Die Gentherapie ist eine ganz neue Behandlungsmethode, es gibt sie erst für wenige Erkrankungen. In Zukunft wird sich das ändern. Die Frage ist, wer sie bezahlt.

Wie teuer ist eine Gentherapie?

Die einmalige Genspritze zur Behandlung der Spinalen Muskelatrophie kostet 2,2 Millionen Euro, wenngleich das alternative Medikament auf Dauer kaum günstiger ist. Es wird an der Staatengemeinschaft sein, mit der Pharmaindustrie zu verhandeln.

In Heidelberg untersuchen Sie Neugeborene im Rahmen einer Studie auf 26 weitere Krankheiten. Wie stehen die Aussichten, dass sie bald in das Screening aufgenommen werden?

Da wäre zum Beispiel der Vitamin-B12-Mangel zu nennen, mit dem etwa jedes 3000. Kind in Deutschland geboren wird. Folgen können Entwicklungsstörungen und nicht reversible Schäden am Gehirn sein. Ursache ist ein mütterlicher B12-Mangel, in unserer Studie waren (meist?) unentdeckte Magenerkrankungen die Ursache dafür. Zur Behandlung reicht es schon, den Kindern nach der Geburt für kurze Zeit Vitamin-B12-Tropfen zu geben. Für unsere Forschung zum Vitamin-B12-Mangel haben wir im vergangenen Jahr den Hufeland-Medizinpreis bekommen – es ist übrigens die Dietmar -Hopp- Stiftung, die uns diese und weitere Studien seit vielen Jahren ermöglicht. Ich hoffe, dass diese Auszeichnung den Gemeinsamen Bundesausschuss der Krankenkassen dazu veranlasst, den Vitamin-B12-Mangel zügig in das Neugeborenen-Screening aufzunehmen.

 

 

Das Interview führte Julia Lauer, RNZ

Prof. Georg Friedrich Hoffmann
Geschäftsführender Direktor des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin und Sprecher des Zentrums für Seltene Erkrankungen am UKHD