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Molekularmedizin: Wie Krankheiten entstehen

Moleküle sind so klein, dass sie nicht einmal mit den stärksten Mikroskopen genau zu sehen sind. Dennoch können Mediziner sie für Diagnosen und Behandlungen nutzen. Im Rahmen unserer Interviewreihe „Medizin am Abend“ erklärt Andreas Kulozik, Professor für Kinderheilkunde am Heidelberger Universitätsklinikum, wie das geht.

Herr Professor Kulozik, wird die Medizin immer stärker zur Molekularmedizin?

Die Medizin ist weiterhin ihren Patienten zugewandt mit dem Ziel, menschlich und inhaltlich gute Arbeit zu leisten. Molekulargenetische Verfahren haben die Diagnostik revolutioniert, auf dieser Basis sind auch Therapien entwickelt worden. Deshalb spielt die Molekularmedizin eine immer größere Rolle.

Molekularmedizin arbeitet mit der Erkenntnis, dass in den Genen alle Information enthalten ist, die es für das Funktionieren des Organismus braucht. Ist Molekularmedizin dasselbe wie Genmedizin?

Gene zu analysieren ist in der Molekularmedizin sehr bedeutend. Molekulare Medizin ist aber nicht identisch mit der Heilung von Genen; molekulare Medizin ist mehr als das.

Sie beschäftigen sich mit Erkrankungen des Blutes. Gibt es hier schon Therapien, die ein defektes Gen heilen?

Es gibt eine Bluterkrankung, bei der eines derjenigen Gene defekt ist, die für die Bildung der roten Blutkörperchen verantwortlich sind, die Thalassämie. Sie ist angeboren und wird vererbt. Hier entnehmen wir Zellen aus dem Knochenmark des Patienten, verändern die DNA dieser Zellen und führen sie zurück in den Blutkreislauf, wo sie sich vermehren. Mit der Zeit setzen sich die geheilten Zellen durch. Das ist ein Beispiel dafür, wie Molekularmedizin eine Zelle mit einem Gendefekt repariert. In anderen Fällen erlaubt das Verständnis molekularer Zusammenhänge keine neue genetische Behandlung, jedoch eine bessere Diagnostik, die dann den Einsatz einer konventionellen Therapie verbessert.

Haben Sie ein Beispiel?

Bei der Leukämie entstehen Krebszellen aus normalen weißen Blutzellen. Medikamente vermindern die Zahl der Leukämiezellen. Wenn die Leukämiezellen weniger als fünf Prozent aller Blutzellen ausmachen, sieht man sie nicht mehr unter dem Mikroskop – dabei besteht jedoch noch immer die Gefahr eines Rückfalls. Der Heidelberger Humangenetiker Claus Bartram hat mit Hilfe der Molekularmedizin ein Verfahren entwickelt, mit dem eine Leukämiezelle in einer Million Blutzellen zu finden ist. Man sieht damit also viel mehr als zuvor.

Man weiß also genau, wann bei den Medikamenten nachzujustieren ist?

Genau, wir haben eine um Größenordnungen genauere Diagnostik, die auf einer PCR-Analyse basiert, wie wir sie inzwischen von Corona-Tests kennen. Sie untersucht molekulare Feinstrukturen und zeigt uns im Fall der Leukämie ganz spezifisch an, wie intensiv eine Behandlung der Leukämie sein muss, ob sie im individuellen Fall hochdosiert sein muss oder niedriger dosiert werden kann.

Sie arbeiten mit krebskranken Kindern. Bei ihnen lässt sich die Leukämie inzwischen vielfach heilen. Ist das der Molekularmedizin zuzuschreiben?

Auch, aber nicht nur. Daneben sind auch die konventionellen Therapien und Medikamente in den vergangenen Jahren viel besser geworden, die Behandlung insgesamt sicherer.

Woran genau forschen Sie?

Wir untersuchen eine Unterform der Leukämie, bei der acht von zehn Kindern geheilt werden können, das ist die Akute T-Zell Leukämie. Bei den Kindern, die einen Rückfall erleiden, ist eine Heilung kaum noch möglich. Wir wollen verstehen, was die Ersterkrankung von einem Rückfall so dramatisch unterscheidet und so auch Perspektiven für eine bessere Behandlung entwickeln.

Wie kann man sich das vorstellen, wenn Sie an Genen forschen? Sitzen Sie über dem Mikroskop?

In der Diagnostik spielen Mikroskope noch immer eine Rolle. Aber die DNA-Sequenzierung übernehmen hochspezialisierte Messgeräte mit angeschlossener Analyse durch Hochleistungscomputer. Sie erkennen, ob Gene intakt sind oder nicht und erfassen auch die Biochemie und Funktion der Moleküle.

Das Genom eines Menschen besteht aus 30 000 bis 40 000 Genen. Wie viele von ihnen kann man reparieren?

Grundsätzlich kann man jedes Gen reparieren. Die entscheidende Frage ist: Wie bringt man reparierte Gene in den Körper zurück? Das funktioniert nämlich nur bei Genen, die im Blut aktiv sind. Beim Gehirn etwa kann man nicht das tun, was bei der Thalassämie mit dem Knochenmark gelingt: einen Teil der Zellen herausnehmen, die verbleibenden Zellen zerstören und das reparierte Material zurückgeben.

Die Molekularmedizin kann also nur in bestimmten Fällen helfen?

Das gilt bisher. Aber sie hat Entwicklungspotenzial für viele weitere Bereiche. Bei Gehirnerkrankungen könnte man etwa Viren in Zukunft so weiterentwickeln, dass sie ein therapeutisches Gen ins Gehirn einschleusen – so ähnlich, wie wir das von Hepatitisviren kennen, die an die Leber andocken. Hier gibt es sogar schon erfolgreiche Gentherapien ohne die vorherige Entnahme des betroffenen Gewebes. Ein Beispiel ist die Bluterkrankheit, die Hämophilie. Was allerdings nicht geht, ist Krankheiten auszurotten.

Nein?

Nein. Das würde eine Manipulation der Keimzellen voraussetzen, und die ist weltweit bei Menschen verboten. Mit Gentherapien kann man also Organe erfolgreich behandeln – wie etwa bei der Bluterkrankung Thalassämie. In der öffentlichen Wahrnehmung wird das oft verwechselt. Denn wenn sich diese Patienten fortpflanzen, ist ihr Erbgut in den Keimzellen von der Therapie unangetastet. Den Gendefekt geben sie also möglicherweise weiter. Denn eine Eugenik im Sinne einer Optimierung des Erbguts betreiben wir aus sehr guten Gründen nicht.

 

Das Interview führte Julia Lauer, RNZ

Professor Andreas Kulozik
Ärztlicher Direktor der Klinik für Pädiatrische Onkologie, Hämatologie, Immunologie und Pneumologie am UKHD
Co-Direktor der Molecular Medicine Partnership Unit (MMPU)