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Vom Skelett eines Räubers zur Kunst aus der NS-Zeit: Mit einer App durch die Heidelberger Medizingeschichte

Dass Heidelberg zu einem der bedeutendsten Medizin-Standorte Deutschlands wurde, geschah nicht über Nacht. Karen Nolte, Professorin für Medizingeschichte an der Universität Heidelberg, hat einen Blick zurückgeworfen – und zusammen mit ihren Studierenden zwei digitale Stadtrundgänge erstellt. Im Rahmen der Interviewserie „Medizin am Abend“ spricht sie über keimabtötende Aufzüge, NS-Kunst auf Wandkeramiken und Skelette früherer Räuber.

Frau Professor Nolte, wenn Sie mal wieder Besuch bekommen: Gehen Sie mit ihm auf medizingeschichtliche Stadtführung?

Natürlich! Wenn man die Stadtführung, die wir mit Studierenden der Geschichte und der Medizin entwickelt haben, komplett abläuft, braucht man allerdings vier, fünf Stunden. Das ist vielleicht manch einem Besucher zu viel. Die App hat den Vorteil, dass man sich auch einzelne Stationen aussuchen kann, über die man sich auf diesem Weg informiert.

Die App behandelt wissenschaftliche Entdeckungen, Personalien ebenso wie architektonische Fragen, die für das Neuenheimer Feld und für Bergheim eine Rolle spielten. Welcher ist für Sie der interessanteste Schauplatz?

Für mich als Pflegehistorikerin ist die Schwesternschule besonders interessant. Es ist traurig, dass das Gebäude verfällt. Der Modellversuch, der hier in den 1950er-Jahren begann und im Grunde bis zur Schließung der Schule 2006 andauerte, war deutschlandweit einmalig. Die Schwesternschülerinnen erhielten eine akademische Ausbildung durch Ärzte und Wissenschaftler und somit ein fundiertes theoretisches Fundament, wenn auch keinen akademischen Grad. Viele Frauen nahmen das später als Basis für ihre Weiterbildung, manche wurden damit sogar Professorin für Pflegewissenschaft. Man sprach vom Heidelberger Modell. Diese Schule hatte einen sehr guten Ruf.

Sie kamen vor bald fünf Jahren aus Würzburg nach Heidelberg. Sehen Sie die Stadt jetzt mit anderen Augen?

Auf jeden Fall. Das Neuenheimer Feld ist unübersichtlich für Leute, die sich hier nicht gut auskennen, und durch die Arbeit in diesem Projekt hat es eine Struktur für mich bekommen. Wir wollen den Rundgang gezielt Erstsemestern der Medizin anbieten, damit sie sich das Neuenheimer Feld auf diesem Weg erschließen können. Aber auch für medizinisches Personal und für Patienten und Patientinnen können die Stadtrundgänge interessant sein.

Nutzer der App erfahren zum Beispiel, dass das mutmaßliche Skelett des Räubers Schinderhannes zu den ältesten Exponaten der anatomischen Sammlung zählt und dass Wandkeramiken der Alten Chirurgie aus der NS-Zeit stammen. Welche Entdeckung hat Sie am meisten überrascht?

Die Alte Chirurgie hat mich sehr beeindruckt. Dass ein Funktionsgebäude erhalten ist, in dem wir noch immer Kunst aus der NS-Zeit vorfinden, ist wohl in Deutschland einzigartig. Wandmalereien in den Eingangsbereichen der Stationen zeigen mittelalterliche und landwirtschaftliche Szenen. Die Tiere auf der Kinderstation lächeln, sie sind kindgerecht dargestellt. Diese Kunst ist nicht so martialisch, wie wir es von anderen Darstellungen aus der Zeit des Nationalsozialismus kennen, aber dennoch unterfüttert von Ideologie, von Vorstellungen etwa vom Germanentum. Das wollen wir noch weiter erforschen.

Im Zweiten Weltkrieg, das lernt man auch, entwickelte das Max-Planck-Institut für medizinische Forschung ein Nervengas für Kriegszwecke. Welche Rolle spielte die Heidelberger Medizin im Nationalsozialismus?

Das ist eine sehr umfassende Frage, auf die ich nur mit Beispielen antworten kann. In der NS-Zeit gehörte die Heidelberger Psychiatrie unter Leitung von Carl Schneider etwa zu jenen Orten, an denen im Sinne des Regimes an Kindern geforscht wurde. Ermordet wurden sie in dezentralen Heimen, aber Schneider ließ sich ihre Gehirne nach Bergheim schicken, wo er sie untersuchte. Studien im Dienste des Regimes wurden auch an anderen Einrichtungen betrieben. Das Hygiene-Institut forschte etwa zur Rassenhygiene. Damit hat es ebenfalls eine schwierige Geschichte und musste sich in den 1960er Jahren ganz neu aufstellen.

Die Rundgänge führen beispielsweise zur früheren Ludolf-Krehl-Klinik in Bergheim, zum Deutschen Krebsforschungszentrum oder auch zur Kopfklinik im Neuenheimer Feld. Doch andere wichtige Kliniken wie etwa die Frauenklinik fehlen. Warum?

Die Frauenklinik zog erst 2008 in das neue Gebäude gegenüber vom Tiergarten, da fehlte uns eine längere Geschichte. Aber stimmt, man könnte auf die frühere Frauenklinik in Bergheim verweisen. Denn sie ist auf der anderen Seite des Neckars Teil des Rundgangs.

In der Altstadt ist das ehemalige Institut für Medizingeschichte erfasst sowie die Alte Anatomie. Dabei war die Medizinische Fakultät jahrhundertelang hier verortet, und es gab auch viele Spitäler. Was ist damit?

Das kommt noch. Wir planen einen eigenen Rundgang zur vormodernen Geschichte. Wir betreuen das Projekt zu dritt, mit Christian Sammer und Sara Doll haben wir uns darauf verständigt, zunächst mit dem zu beginnen, was nicht offensichtlich ist und die Stadtführerinnen und Stadtführer nicht abdecken.

Ins Neuenheimer Feld verirren sich die Stadtführer vermutlich eher selten. Werden Sie die App eigentlich aktualisieren – zum Beispiel, wenn es mit der Sanierung der Kopfklinik irgendwann ernst wird?

Wenn etwas Neues geschieht, passen wir die App an. Manches haben wir schon mitbedacht, so haben wir etwa Fotos der Kinderklinik für Infektionskrankheiten gemacht, denn sie soll ja in Zukunft dem Herzzentrum weichen. Das Gebäude ist beachtlich, es stammt aus den 1950er-Jahren.

Auch die Ausstattung ist interessant: In der App ist die Rede davon, dass die Aufzüge früher mit keimtötenden Lampen versehen waren.

Heute spielen Infektionskrankheiten wieder eine größere Rolle, wie die Corona-Pandemie zeigt. Baugeschichte spiegelt auch immer die Fachgeschichte wider, das kann man zum Beispiel auch anhand der Ludolf-Krehl-Klinik in Bergheim sehen. Kaum war sie bezogen, wurde sie schon erweitert und umgebaut, weil sich die Innere Medizin ausdifferenzierte. Das Infektionshaus war nicht mehr so bedeutend, es wurde umgenutzt, zusätzlich wurden Abteilungen für Kardiologie und Onkologie eingerichtet.

Wie kamen Sie eigentlich auf die Idee, solch einen Stadtrundgang als App zu entwickeln?

Auch das hängt mit dem Infektionsgeschehen zusammen. Den ersten Rundgang haben wir vor anderthalb Jahren während der Pandemie erarbeitet. Wir wollten damals eine Veranstaltung an der freien Luft anbieten – und mit einem Stadtrundgang war das möglich.

 

Die App kann mit dem Suchbegriff „Heidelberger Medizingeschichte“ kostenlos in den App-Stores für Android-Handys und i-Phones heruntergeladen und dann offline genutzt werden. Das Universitätsklinikum bietet im Internet einen vertiefenden Podcast mit Karen Nolte an unter dem Link www.medizin-am-abend.de.

Das Interview führte Julia Lauer, RNZ

Referentin

Prof. Dr. phil. Karen Nolte
Leiterin des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin