Tetrahandchirurgie - Funktionsverbesserung der Hand bei hohem Querschnitt

Bereich Hand-, Ellenbogen- und Mikrochirurgie

Erklärung

Häufigkeit

Verletzungen des Rückenmarkes kommen weltweit mit einer Inzidenz von 1-8 Fällen pro 100.000 Einwohnern jährlich vor. Hierbei ist in etwa 50% der Fälle das Rückenmark des Halses betroffen, was dann auch eine Lähmung der oberen Extremitäten zur Folge hat [1, 2].

Ursachen und Risikofaktoren

Häufigste Ursache einer solchen Rückenmarksschädigung sind Verletzungen durch Verkehrsunfälle, Freizeitunfälle, Verschleiß oder Tumore. Durch die meist akute, traumatische Ursache sind häufig jüngere Patienten zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr betroffen. Nach stattgehabter Verletzung sind die Patienten meist massiv eingeschränkt. Rollstuhlpflicht, Bewegungseinschränkungen der oberen Extremitäten je nach Höhe der Rückenmarksschädigung sowie Störungen der Blasen und Darmentleerung sind nur einige der resultierenden Probleme. Zusätzlich entsteht noch eine große körperliche Abhängigkeit von externer Hilfe, sowie seelische Belastungen.

Auf die Frage „Was wünschen Sie sich am meisten zurück?“ gibt ein Großteil der Betroffenen an, dass eine Wiederherstellung oder Verbesserung der Handfunktion die höchste Priorität habe. Dies sei sogar wichtiger als die Fähigkeit zu Gehen. Der Grund ist die damit verbundene Wiedererlangung der Selbstständigkeit. Eine gute Handfunktion ist die Grundlage für die meisten Alltagssituationen, sei es Mobilität mit dem Rollstuhl, Nahrungsaufnahme, Hygiene oder notwendige Tätigkeiten wie die Selbstkatheterisierung. Besonders die Bedienung von Smartphones und Tablets ermöglicht Kommunikation und Selbstständigkeit. Gerade bei jüngeren Patienten stellt die Fähigkeit dazu einen entscheidenden Gewinn an Lebensqualität dar.

Die Techniken der Tetrahandchirurgie (Sehnen- und Nervenumlagerung, Sehnenfixierung und  Gelenkversteifung) bieten ein breites operatives Spektrum, um patientenindividuell das bestmögliche Ergebnis zu erzielen.

Symptome

Aufgrund des meist festgelegten Verlaufes von Nerven, entstehen jeweils typische Lähmungsmuster, die eine gute und standardisierte Therapieplanung ermöglichen. So ist bezüglich der Arm- und Handfunktion bei Patienten mit sehr hohem Querschnitt (Querschnittshöhe C2-C4) keine Funktion im Bereich der oberen Extremität erhalten. Bei einer Schädigungshöhe unter C5 Höhe ist üblicherweise die Schulterfunktion und Ellenbogenfunktion brauchbar erhalten, jedoch keinerlei Handfunktion. Ab der Höhe C6 ist zusätzlich die Handgelenksstreckung möglich jedoch keine aktive Fingerbewegung. Diese ist erst ab den Läsionshöhen C7 zum Teil erhalten, hier überwiegend die Streckfunktionen. Erst bei Läsionen unter C8 kann auch eine Fingerbeugung mit schwachem Faustschluss noch erhalten sein.

Therapieziele

Die Therapieziele werden im interdisziplinären Behandlungsteam individuell mit dem Patienten festgelegt. Hierbei spielen neben der Läsionshöhe besonders auch die Alltagsziele des Patienten eine Rolle. Gezielte Assessments spielen hier eine große Rolle.

Grundsätzlich stehen in der Tetrahandchirurgie 3 Gruppen von chirurgischen Techniken zur Verfügung.

Bei den Sehnentransfers werden verzichtbare, kräftige Muskel-Sehnen-Anteile so umgelegt, dass sie eine neue Funktion erfüllen können. Ein Verlust einer anderen Bewegung ist dabei nicht zu befürchten. Als Beispiel wird die Ellenbogenbeugung von 3 Muskeln durchgeführt. Lagert man nun einen dieser drei Muskel so um, dass er die Handgelenksstreckung übernehmen kann, ist die Ellenbogenbeugung über die verbliebenen zwei Muskeln weiterhin kräftig möglich. Die Handgelenksstreckung wurde hinzugewonnen. Diese Technik ist bei stabilisierten neurologischen Verhältnissen und frei beweglichen Gelenken jederzeit durchführbar – auch noch Jahre nach dem beginn der Querschnittssymptomatik.

Die zweite Gruppe umfasst die sogenannten Nerventransfers. Hier werden statt der Sehnen, noch funktionstüchtige Nerven auf andere Nerven umgelagert, die zu den gelähmten Muskeln führen. Das Ziel dieser Technik ist es, so die natürliche Funktion der Muskeln wieder zurück zu gewinnen. Diese Technik kann jedoch nur in einem Zeitfenster von ca. 6-18 Monaten nach der Verletzung durchgeführt werden.

Die dritte Gruppe umfasst die sogenannten Versteifungsoperationen. Stehen beispielsweise nicht genügend Spendersehnen zur Verfügung, kann das Handgelenk in einer guten und brauchbaren Position stabilisiert werden und Sehnen dann für die feinere Rekonstruktion der Fingerstreckung und des Faustschlusses verwendet werden.

Standardisierte Therapieziele lassen sich aus der Verletzungshöhe und des patientenindividuellen Behandlungszielen ableiten.

Zunächst ist die Rekonstruktion der Ellbogenstreckung durch Sehnen- oder Nerventransfers entscheidend, um Rollstuhltransfers und das Rollstuhlfahren zu ermöglichen. Die stabile Ellbogenfunktion erleichtert auch Alltagsbewegungen mit Hilfsmitteln, die bei der Greiffunktion unterstützen.

Für das Handgelenk steht insbesondere die Rekonstruktion der Streckfähigkeit im Vordergrund. Diese kann über den sogenannten Tenodeseeffekt dann auch leichte Greifbewegungen ermöglichen. Die Handbeugung kann passiv, über die Schwerkraft ausgeführt, ausreichen.

Für die Verbesserung der Fingerbeweglichkeit ist ein wichtiges Ziel die Wiederherstellung eines kräftigen Schlüsselgriffs. Diese Handbewegung wird im Alltag zum Greifen von Objekten benutzt, ermöglicht somit das selbstständige Essen (Halten von Besteck), Schreiben (Halten des Stiftes) und ist somit elementar. Je nach Höhe der Rückenmarksschädigung und der zur Verfügung stehenden Spendersehnen und –nerven kann darüber hinaus auch die aktive Fingerstreckung, der Faustschluss und auch die differenzierte Daumenbeweglichkeit zurückgewonnen werden.

Voraussetzungen

Um solche Eingriffe erfolgreich durchführen zu können, sind einige Voraussetzungen wichtig:

  • Die Gelenke müssen passiv (weitestgehend) frei beweglich sein
  • Spastische Komponenten sollten gering ausgeprägt oder vorher ggf. chirurgisch gelöst sein
  • Der Allgemeinzustand sollte stabil sein (keine Druckstellen der Haut, Infekte etc.)
  • Der querschnittsbezogene neurologische Zustand sollte seit 6 Monaten stabil sein

Auch Patientenbezogene Faktoren sind entscheidend für ein gutes Operationsergebnis:

  • stabiles soziales Umfeld
  • gute Kooperation des Patienten zu erwarten
  • psychische Stabilität
  • realistische Erwartungen
  • therapeutische Nachbehandlung realisierbar

 

Nachsorge

Bei Sehnentransfers ist nach der Operation zunächst eine Ruhigstellung der Hand notwendig. Daher ist für einen Zeitraum von ca. 6-12 Wochen mit einer erhöhten Hilfsbedürftigkeit zu rechnen. Dies kann je nach Situation durch einen längeren stationären Aufenthalt oder entsprechende Anpassung der Betreuung zuhause (Elektrorollstuhl etc.) gewährleistet werden. Daher werden auch nicht beide Extremitäten in einem Eingriff versorgt, sondern nacheinander.

In Studien zu Tetrahandchirurgie zeigte sich eine hohe Patientenzufriedenheit. Über 70% der Patienten waren sehr zufrieden mit dem Resultat und über 77% der Patienten würden den Eingriff jederzeit wiedermachen und weiterempfehlen.

75% der Patienten gaben auch eine signifikante Verbesserung der Körperhygiene an sowie eine Verbesserung der Fähigkeit zur Selbstkatheterisierung. Dies hat auch eine gesundheitliche Verbesserung zur Folge und kann im Extremfall lebensverlängernd sein.

Aufgrund der Komplexität der Eingriffe mit einer vorhergehend strukturierten und  interdisziplinären Untersuchung der Patienten sowie einer meist zeitaufwändigen Nachbehandlung durch verschiedene Therapeuten sollte die Tetrahandchirurgie nur in spezialisierten Zentren mit großer Erfahrung durchgeführt werden.

Nach einer Kombination von Sehnentransfers (sog. Alphabet-Prozedur) ist das kräftige Greifen und Halten schwerer Gegenstände ebenso wieder möglich, wie das Aufnehmen und präzise Einwerfen von Münzen.